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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887.

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§ 31. Die Halbfreien und die Freigelassenen.
der Kirche, sich zur allgemeinen Schutzherrin aller Freigelassenen
aufzuschwingen, trat in Gegensatz zum weltlichen Rechte und zu den
Ansprüchen des Königtums. Zwar war und blieb die konstantinische
Form der Freilassung in ecclesia durch die germanischen Volksrechte
anerkannt, aber das Edikt Chlotars II. von 614, welches sich mit den
weitergehenden Forderungen der Kirche vorläufig auseinandersetzte,
lässt das Schutzrecht der Kirche nur gelten, sofern der Text der Frei-
lassungsurkunde es angeordnet hatte. Auch versagte es der Kirche
die Gerichtsbarkeit, welche sie in Sachen der Freigelassenen bean-
spruchte, und gestattete nur, dass der Bischof oder der Propst an
der Verhandlung des weltlichen Gerichtes teilnehme 31.

Ein fränkisches Königsgesetz, welches etwas später wie das Edikt
Chlotars II. entstanden und in die Lex Ribuaria eingerückt worden
ist, unterscheidet zwei Formen der Freilassung zu römischem Rechte,
eine kirchliche und eine weltliche. Erstere bestand darin, dass der
Freilasser den Knecht vor dem Klerus in die Hände des Bischofs
tradierte, der dann die Freilassungsurkunde schreiben liess 32. Hin-
sichtlich dieser Freigelassenen, welche tabularii hiessen, wurden die
Forderungen der Kirche in weitgehendem Masse bewilligt. Die tabu-
larii sollten Hörige der Kirche sein, die ihre Freilassung vermittelte,
und unter ihrer Gerichtsbarkeit stehen. Die weltliche Form der Frei-
lassung war die zum civis Romanus. Sie geschah durch Übergabe
eines Freibriefes, gewährte dem Freigelassenen die Freizügigkeit und
stellte ihn nicht unter kirchliches Patronat; vielmehr sollten, wenn er
kinderlos verstarb, sein Erbe und sein Wergeld an den Fiskus ge-
langen 33. Ein solcher Freigelassener fällt unter den Begriff der car-
tularii 34, welcher alle per cartam freigelassenen Knechte in sich schliesst,
die nicht tabularii wurden 35.

Diese Unterscheidung zwischen tabularii und cartularii hatte
-- wenigstens ausserhalb des Geltungsbereiches der Lex Ribuaria --
nur soweit praktische Bedeutung, als nicht die Freilassungsurkunde
selbst die Stellung des Freigelassenen in anderer Weise regelte. Die
fränkischen Formelsammlungen bieten Muster zur Beurkundung von

31 Chloth. II. ed. c. 7, I 22: libertus cuiuscumque ingenuorum a sacerdotibus
iuxta textus cartarum ingenuetatis suae contenit, defensandus, nec absque praesentia
episcopi aut praepositi aecclesiae esse iudicandus vel ad publicum revocandus.
32 Lex Rib. 58. Über die Freigelassenen der Lex Rib. handelt ausführlich
Ernst Mayer, Zur Entst. der Lex Rib. S 131 ff. Vgl. Schröder, Z2 f. RG VII 23.
33 Lex Rib. 61.
34 Cap. legi Rib. add. v. J. 803 c. 10, I 118.
35 Auch jene, welchen die Freizügigkeit nicht gewährt wurde.
16*

§ 31. Die Halbfreien und die Freigelassenen.
der Kirche, sich zur allgemeinen Schutzherrin aller Freigelassenen
aufzuschwingen, trat in Gegensatz zum weltlichen Rechte und zu den
Ansprüchen des Königtums. Zwar war und blieb die konstantinische
Form der Freilassung in ecclesia durch die germanischen Volksrechte
anerkannt, aber das Edikt Chlotars II. von 614, welches sich mit den
weitergehenden Forderungen der Kirche vorläufig auseinandersetzte,
läſst das Schutzrecht der Kirche nur gelten, sofern der Text der Frei-
lassungsurkunde es angeordnet hatte. Auch versagte es der Kirche
die Gerichtsbarkeit, welche sie in Sachen der Freigelassenen bean-
spruchte, und gestattete nur, daſs der Bischof oder der Propst an
der Verhandlung des weltlichen Gerichtes teilnehme 31.

Ein fränkisches Königsgesetz, welches etwas später wie das Edikt
Chlotars II. entstanden und in die Lex Ribuaria eingerückt worden
ist, unterscheidet zwei Formen der Freilassung zu römischem Rechte,
eine kirchliche und eine weltliche. Erstere bestand darin, daſs der
Freilasser den Knecht vor dem Klerus in die Hände des Bischofs
tradierte, der dann die Freilassungsurkunde schreiben lieſs 32. Hin-
sichtlich dieser Freigelassenen, welche tabularii hieſsen, wurden die
Forderungen der Kirche in weitgehendem Maſse bewilligt. Die tabu-
larii sollten Hörige der Kirche sein, die ihre Freilassung vermittelte,
und unter ihrer Gerichtsbarkeit stehen. Die weltliche Form der Frei-
lassung war die zum civis Romanus. Sie geschah durch Übergabe
eines Freibriefes, gewährte dem Freigelassenen die Freizügigkeit und
stellte ihn nicht unter kirchliches Patronat; vielmehr sollten, wenn er
kinderlos verstarb, sein Erbe und sein Wergeld an den Fiskus ge-
langen 33. Ein solcher Freigelassener fällt unter den Begriff der car-
tularii 34, welcher alle per cartam freigelassenen Knechte in sich schlieſst,
die nicht tabularii wurden 35.

Diese Unterscheidung zwischen tabularii und cartularii hatte
— wenigstens auſserhalb des Geltungsbereiches der Lex Ribuaria —
nur soweit praktische Bedeutung, als nicht die Freilassungsurkunde
selbst die Stellung des Freigelassenen in anderer Weise regelte. Die
fränkischen Formelsammlungen bieten Muster zur Beurkundung von

31 Chloth. II. ed. c. 7, I 22: libertus cuiuscumque ingenuorum a sacerdotibus
iuxta textus cartarum ingenuetatis suae contenit, defensandus, nec absque praesentia
episcopi aut praepositi aecclesiae esse iudicandus vel ad publicum revocandus.
32 Lex Rib. 58. Über die Freigelassenen der Lex Rib. handelt ausführlich
Ernst Mayer, Zur Entst. der Lex Rib. S 131 ff. Vgl. Schröder, Z2 f. RG VII 23.
33 Lex Rib. 61.
34 Cap. legi Rib. add. v. J. 803 c. 10, I 118.
35 Auch jene, welchen die Freizügigkeit nicht gewährt wurde.
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[243/0261] § 31. Die Halbfreien und die Freigelassenen. der Kirche, sich zur allgemeinen Schutzherrin aller Freigelassenen aufzuschwingen, trat in Gegensatz zum weltlichen Rechte und zu den Ansprüchen des Königtums. Zwar war und blieb die konstantinische Form der Freilassung in ecclesia durch die germanischen Volksrechte anerkannt, aber das Edikt Chlotars II. von 614, welches sich mit den weitergehenden Forderungen der Kirche vorläufig auseinandersetzte, läſst das Schutzrecht der Kirche nur gelten, sofern der Text der Frei- lassungsurkunde es angeordnet hatte. Auch versagte es der Kirche die Gerichtsbarkeit, welche sie in Sachen der Freigelassenen bean- spruchte, und gestattete nur, daſs der Bischof oder der Propst an der Verhandlung des weltlichen Gerichtes teilnehme 31. Ein fränkisches Königsgesetz, welches etwas später wie das Edikt Chlotars II. entstanden und in die Lex Ribuaria eingerückt worden ist, unterscheidet zwei Formen der Freilassung zu römischem Rechte, eine kirchliche und eine weltliche. Erstere bestand darin, daſs der Freilasser den Knecht vor dem Klerus in die Hände des Bischofs tradierte, der dann die Freilassungsurkunde schreiben lieſs 32. Hin- sichtlich dieser Freigelassenen, welche tabularii hieſsen, wurden die Forderungen der Kirche in weitgehendem Maſse bewilligt. Die tabu- larii sollten Hörige der Kirche sein, die ihre Freilassung vermittelte, und unter ihrer Gerichtsbarkeit stehen. Die weltliche Form der Frei- lassung war die zum civis Romanus. Sie geschah durch Übergabe eines Freibriefes, gewährte dem Freigelassenen die Freizügigkeit und stellte ihn nicht unter kirchliches Patronat; vielmehr sollten, wenn er kinderlos verstarb, sein Erbe und sein Wergeld an den Fiskus ge- langen 33. Ein solcher Freigelassener fällt unter den Begriff der car- tularii 34, welcher alle per cartam freigelassenen Knechte in sich schlieſst, die nicht tabularii wurden 35. Diese Unterscheidung zwischen tabularii und cartularii hatte — wenigstens auſserhalb des Geltungsbereiches der Lex Ribuaria — nur soweit praktische Bedeutung, als nicht die Freilassungsurkunde selbst die Stellung des Freigelassenen in anderer Weise regelte. Die fränkischen Formelsammlungen bieten Muster zur Beurkundung von 31 Chloth. II. ed. c. 7, I 22: libertus cuiuscumque ingenuorum a sacerdotibus iuxta textus cartarum ingenuetatis suae contenit, defensandus, nec absque praesentia episcopi aut praepositi aecclesiae esse iudicandus vel ad publicum revocandus. 32 Lex Rib. 58. Über die Freigelassenen der Lex Rib. handelt ausführlich Ernst Mayer, Zur Entst. der Lex Rib. S 131 ff. Vgl. Schröder, Z2 f. RG VII 23. 33 Lex Rib. 61. 34 Cap. legi Rib. add. v. J. 803 c. 10, I 118. 35 Auch jene, welchen die Freizügigkeit nicht gewährt wurde. 16*

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Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887, S. 243. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte01_1887/261>, abgerufen am 22.11.2024.