Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887.

Bild:
<< vorherige Seite

§ 54. Königsrecht und Kapitularien.
klarsten in den 818 und 819 auf einem Aachener Reichstag zustande
gekommenen Satzungen Ludwigs I. zu Tage tritt. Es werden hier
drei Arten von Kapitularien unterschieden, nämlich capitula legibus
addenda, capitula per se scribenda und capitula missorum11. Wenn
diese Einteilung auch für all die Aktenstücke, die man als Kapitu-
larien zusammenzufassen und abzudrucken pflegt, nicht erschöpfend
ist, so stellt sie doch drei scharf ausgeprägte Typen von Kapitularien
neben einander, Typen, welche ebensowohl vor wie nach 819 vor-
handen waren und einer näheren Erörterung bedürfen.

1. Die Capitula legibus addenda sind die Kapitularien, welche
die Volksrechte ergänzen, gleich diesen gesetzliche Kraft haben sollen.
Sie wurden entweder zu einzelnen Stammesrechten hinzugefügt, wie
das Kapitular zur Lex Ribuaria von 803, das zur Lex Baiuwariorum
aus den Jahren 801--813, das zur Lex Salica von 819 oder bald
darnach12. Oder sie beanspruchten neben den sämtlichen Leges des
Reiches oder eines bestimmten Reichsteiles zu gelten, wie z. B. das
Kapitular Karls von 803 (I 111), die Aachener und die Wormser Ge-
setze Ludwigs I. von 818--19 und 829 und mehrere Capitula italica13.
Die Kapitularien der erstgedachten Art hatten nur die Geltung des
Stammesrechts, das sie ergänzen sollten, nicht territoriale Geltung.
Die Capitula legibus addenda der zweiten Gruppe stellen sich zwar
gleichfalls nicht als ein von den Stammesrechten unabhängiges Reichs-
recht dar, haben aber, weil sie neben allen Stammesrechten berück-
sichtigt werden wollen, thatsächlich die Bedeutung eines territorialen
Rechtes.

Die Capitula legibus addenda wollen Rechtssätze schaffen, welche
bei der Rechtsprechung der Gerichte zur unmittelbaren Anwendung
gelangen. Um ihnen die Kraft des eigentlichen Volksrechtes zu geben
genügt es nicht, dass sie der König mit den Grossen des Reiches be-
rät, sondern bedarf es grundsätzlich auch der Zustimmung des Volkes.
Am lebendigsten hat sich der Gedanke, dass der König das Volksrecht

11 Die Vorrede zur Aachener Gesetzgebung (Cap. I 275) unterscheidet quid
canonicis quidve monachis observanda (Cap. ecclesiastica), quid etiam in legibus
mundanis addenda (Cap. legib. add.), quid quoque in capitulis inserenda forent.
Die Cap. leg. add. nennen sich I 281 capitula quae legibus addenda sunt, quae et
missi et comites habere et ceteris nota facere debent. Die Cap. per se scr. haben
I 287 die Überschrift: item incipiunt alia capitula, quae per se scribenda et ab
omnibus observanda sunt. Die Cap. miss. werden I 289 eingeführt als capitula
praecipue ad legationem missorum nostrorum ob memoriae causam pertinentia, de
quibus videlicet causis ipsi agere debeant.
12 S. oben S 308. 319. 303.
13 S. unten § 56 S 388.

§ 54. Königsrecht und Kapitularien.
klarsten in den 818 und 819 auf einem Aachener Reichstag zustande
gekommenen Satzungen Ludwigs I. zu Tage tritt. Es werden hier
drei Arten von Kapitularien unterschieden, nämlich capitula legibus
addenda, capitula per se scribenda und capitula missorum11. Wenn
diese Einteilung auch für all die Aktenstücke, die man als Kapitu-
larien zusammenzufassen und abzudrucken pflegt, nicht erschöpfend
ist, so stellt sie doch drei scharf ausgeprägte Typen von Kapitularien
neben einander, Typen, welche ebensowohl vor wie nach 819 vor-
handen waren und einer näheren Erörterung bedürfen.

1. Die Capitula legibus addenda sind die Kapitularien, welche
die Volksrechte ergänzen, gleich diesen gesetzliche Kraft haben sollen.
Sie wurden entweder zu einzelnen Stammesrechten hinzugefügt, wie
das Kapitular zur Lex Ribuaria von 803, das zur Lex Baiuwariorum
aus den Jahren 801—813, das zur Lex Salica von 819 oder bald
darnach12. Oder sie beanspruchten neben den sämtlichen Leges des
Reiches oder eines bestimmten Reichsteiles zu gelten, wie z. B. das
Kapitular Karls von 803 (I 111), die Aachener und die Wormser Ge-
setze Ludwigs I. von 818—19 und 829 und mehrere Capitula italica13.
Die Kapitularien der erstgedachten Art hatten nur die Geltung des
Stammesrechts, das sie ergänzen sollten, nicht territoriale Geltung.
Die Capitula legibus addenda der zweiten Gruppe stellen sich zwar
gleichfalls nicht als ein von den Stammesrechten unabhängiges Reichs-
recht dar, haben aber, weil sie neben allen Stammesrechten berück-
sichtigt werden wollen, thatsächlich die Bedeutung eines territorialen
Rechtes.

Die Capitula legibus addenda wollen Rechtssätze schaffen, welche
bei der Rechtsprechung der Gerichte zur unmittelbaren Anwendung
gelangen. Um ihnen die Kraft des eigentlichen Volksrechtes zu geben
genügt es nicht, daſs sie der König mit den Groſsen des Reiches be-
rät, sondern bedarf es grundsätzlich auch der Zustimmung des Volkes.
Am lebendigsten hat sich der Gedanke, daſs der König das Volksrecht

11 Die Vorrede zur Aachener Gesetzgebung (Cap. I 275) unterscheidet quid
canonicis quidve monachis observanda (Cap. ecclesiastica), quid etiam in legibus
mundanis addenda (Cap. legib. add.), quid quoque in capitulis inserenda forent.
Die Cap. leg. add. nennen sich I 281 capitula quae legibus addenda sunt, quae et
missi et comites habere et ceteris nota facere debent. Die Cap. per se scr. haben
I 287 die Überschrift: item incipiunt alia capitula, quae per se scribenda et ab
omnibus observanda sunt. Die Cap. miss. werden I 289 eingeführt als capitula
praecipue ad legationem missorum nostrorum ob memoriae causam pertinentia, de
quibus videlicet causis ipsi agere debeant.
12 S. oben S 308. 319. 303.
13 S. unten § 56 S 388.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0396" n="378"/><fw place="top" type="header">§ 54. Königsrecht und Kapitularien.</fw><lb/>
klarsten in den 818 und 819 auf einem Aachener Reichstag zustande<lb/>
gekommenen Satzungen Ludwigs I. zu Tage tritt. Es werden hier<lb/>
drei Arten von Kapitularien unterschieden, nämlich capitula legibus<lb/>
addenda, capitula per se scribenda und capitula missorum<note place="foot" n="11">Die Vorrede zur Aachener Gesetzgebung (Cap. I 275) unterscheidet quid<lb/>
canonicis quidve monachis observanda (Cap. ecclesiastica), quid etiam in legibus<lb/>
mundanis addenda (Cap. legib. add.), quid quoque in capitulis inserenda forent.<lb/>
Die Cap. leg. add. nennen sich I 281 capitula quae legibus addenda sunt, quae et<lb/>
missi et comites habere et ceteris nota facere debent. Die Cap. per se scr. haben<lb/>
I 287 die Überschrift: item incipiunt alia capitula, quae per se scribenda et ab<lb/>
omnibus observanda sunt. Die Cap. miss. werden I 289 eingeführt als capitula<lb/>
praecipue ad legationem missorum nostrorum ob memoriae causam pertinentia, de<lb/>
quibus videlicet causis ipsi agere debeant.</note>. Wenn<lb/>
diese Einteilung auch für all die Aktenstücke, die man als Kapitu-<lb/>
larien zusammenzufassen und abzudrucken pflegt, nicht erschöpfend<lb/>
ist, so stellt sie doch drei scharf ausgeprägte Typen von Kapitularien<lb/>
neben einander, Typen, welche ebensowohl vor wie nach 819 vor-<lb/>
handen waren und einer näheren Erörterung bedürfen.</p><lb/>
            <p>1. Die Capitula legibus addenda sind die Kapitularien, welche<lb/>
die Volksrechte ergänzen, gleich diesen gesetzliche Kraft haben sollen.<lb/>
Sie wurden entweder zu einzelnen Stammesrechten hinzugefügt, wie<lb/>
das Kapitular zur Lex Ribuaria von 803, das zur Lex Baiuwariorum<lb/>
aus den Jahren 801&#x2014;813, das zur Lex Salica von 819 oder bald<lb/>
darnach<note place="foot" n="12">S. oben S 308. 319. 303.</note>. Oder sie beanspruchten neben den sämtlichen Leges des<lb/>
Reiches oder eines bestimmten Reichsteiles zu gelten, wie z. B. das<lb/>
Kapitular Karls von 803 (I 111), die Aachener und die Wormser Ge-<lb/>
setze Ludwigs I. von 818&#x2014;19 und 829 und mehrere Capitula italica<note place="foot" n="13">S. unten § 56 S 388.</note>.<lb/>
Die Kapitularien der erstgedachten Art hatten nur die Geltung des<lb/>
Stammesrechts, das sie ergänzen sollten, nicht territoriale Geltung.<lb/>
Die Capitula legibus addenda der zweiten Gruppe stellen sich zwar<lb/>
gleichfalls nicht als ein von den Stammesrechten unabhängiges Reichs-<lb/>
recht dar, haben aber, weil sie neben allen Stammesrechten berück-<lb/>
sichtigt werden wollen, thatsächlich die Bedeutung eines territorialen<lb/>
Rechtes.</p><lb/>
            <p>Die Capitula legibus addenda wollen Rechtssätze schaffen, welche<lb/>
bei der Rechtsprechung der Gerichte zur unmittelbaren Anwendung<lb/>
gelangen. Um ihnen die Kraft des eigentlichen Volksrechtes zu geben<lb/>
genügt es nicht, da&#x017F;s sie der König mit den Gro&#x017F;sen des Reiches be-<lb/>
rät, sondern bedarf es grundsätzlich auch der Zustimmung des Volkes.<lb/>
Am lebendigsten hat sich der Gedanke, da&#x017F;s der König das Volksrecht<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[378/0396] § 54. Königsrecht und Kapitularien. klarsten in den 818 und 819 auf einem Aachener Reichstag zustande gekommenen Satzungen Ludwigs I. zu Tage tritt. Es werden hier drei Arten von Kapitularien unterschieden, nämlich capitula legibus addenda, capitula per se scribenda und capitula missorum 11. Wenn diese Einteilung auch für all die Aktenstücke, die man als Kapitu- larien zusammenzufassen und abzudrucken pflegt, nicht erschöpfend ist, so stellt sie doch drei scharf ausgeprägte Typen von Kapitularien neben einander, Typen, welche ebensowohl vor wie nach 819 vor- handen waren und einer näheren Erörterung bedürfen. 1. Die Capitula legibus addenda sind die Kapitularien, welche die Volksrechte ergänzen, gleich diesen gesetzliche Kraft haben sollen. Sie wurden entweder zu einzelnen Stammesrechten hinzugefügt, wie das Kapitular zur Lex Ribuaria von 803, das zur Lex Baiuwariorum aus den Jahren 801—813, das zur Lex Salica von 819 oder bald darnach 12. Oder sie beanspruchten neben den sämtlichen Leges des Reiches oder eines bestimmten Reichsteiles zu gelten, wie z. B. das Kapitular Karls von 803 (I 111), die Aachener und die Wormser Ge- setze Ludwigs I. von 818—19 und 829 und mehrere Capitula italica 13. Die Kapitularien der erstgedachten Art hatten nur die Geltung des Stammesrechts, das sie ergänzen sollten, nicht territoriale Geltung. Die Capitula legibus addenda der zweiten Gruppe stellen sich zwar gleichfalls nicht als ein von den Stammesrechten unabhängiges Reichs- recht dar, haben aber, weil sie neben allen Stammesrechten berück- sichtigt werden wollen, thatsächlich die Bedeutung eines territorialen Rechtes. Die Capitula legibus addenda wollen Rechtssätze schaffen, welche bei der Rechtsprechung der Gerichte zur unmittelbaren Anwendung gelangen. Um ihnen die Kraft des eigentlichen Volksrechtes zu geben genügt es nicht, daſs sie der König mit den Groſsen des Reiches be- rät, sondern bedarf es grundsätzlich auch der Zustimmung des Volkes. Am lebendigsten hat sich der Gedanke, daſs der König das Volksrecht 11 Die Vorrede zur Aachener Gesetzgebung (Cap. I 275) unterscheidet quid canonicis quidve monachis observanda (Cap. ecclesiastica), quid etiam in legibus mundanis addenda (Cap. legib. add.), quid quoque in capitulis inserenda forent. Die Cap. leg. add. nennen sich I 281 capitula quae legibus addenda sunt, quae et missi et comites habere et ceteris nota facere debent. Die Cap. per se scr. haben I 287 die Überschrift: item incipiunt alia capitula, quae per se scribenda et ab omnibus observanda sunt. Die Cap. miss. werden I 289 eingeführt als capitula praecipue ad legationem missorum nostrorum ob memoriae causam pertinentia, de quibus videlicet causis ipsi agere debeant. 12 S. oben S 308. 319. 303. 13 S. unten § 56 S 388.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte01_1887
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte01_1887/396
Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887, S. 378. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte01_1887/396>, abgerufen am 22.11.2024.