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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887.

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§ 54. Königsrecht und Kapitularien.
mannen heimgesuchten Gauen Grundbesitzer, denen ihre Häuser ver-
brannt worden waren. Solche Leute glaubten einen Freibrief für
Übelthaten zu haben, weil man sie, die im Rechtssinne für ansässige
Leute galten, nicht rechtmässig, das heisst ad domum vorladen könne.
Ihre Verurteilung konnte nur erfolgen, wenn vorher der eidliche Be-
weis erbracht wurde, dass sie "legibus" vorgeladen worden seien.
Solchen Eid konnte mit Rücksicht auf den Wortlaut der Lex Salica
niemand auf sein Gewissen nehmen. Daher ordnete Karl der Kahle
mit Zustimmung seiner Getreuen an, dass der Graf in solchem Falle
seinen Boten auf das Grundstück sende, wo früher das Haus des Be-
klagten gestanden hatte, um daselbst eine Scheinladung vorzunehmen.
Daraufhin dürften die Franken getrost schwören, dass der Beklagte
dem königlichen Befehl gemäss "legibus" vorgeladen sei, "quoniam
lex consensu populi fit et constitutione regis".

Die volkstümliche Kraft der Capitula legibus addenda äussert
sich, wenn ihre Aufhebung in Frage kommt. Sie können nur in der-
selben Weise ausser Kraft gesetzt werden, in der sie zur Geltung ge-
langt sind.

2. Die Capitula per se scribenda19 sind die eigentlichen könig-
lichen Verordnungen und bilden das geschriebene Königsrecht im
engeren Sinne. Dem Inhalte nach sind sie entweder Anordnungen
über die Verwaltung der königlichen Güter, oder transitorische Ver-
fügungen, oder Verordnungen welche dauernde Beachtung beanspruchen.
Ihre Tragweite reicht soweit, wie die verfassungsmässige Gewalt des
Königs und seines Beamtentums. Sie haben territoriale Geltung und
finden ihre Sanktion in der Banngewalt des Königs und seiner Be-
amten, in der Treue, welche der König auf Grund des Fidelitätseides
von den Unterthanen verlangt, den Vassallen und Beamten gegenüber
auch in dem Rechte des Königs, Lehen und Amt zu entziehen20. Die
meisten betreffen Gegenstände der Verwaltung, die Stellung der Be-
amten, die Verhältnisse der Kirche im Rahmen des weltlichen Rechtes,
die Aufrechthaltung des Landfriedens und der öffentlichen Ordnung,
Zoll, Münze und Verkehrswesen21. Vielfach handelt es sich um die
Ausführung und Einschärfung geltenden Rechtes, wie z. B. in den
Anordnungen über das Heerwesen. Manche Verordnungen schaffen

19 Der Ausdruck ist nur für die Aachener Kapitel von 818--19, Cap. I 285
überliefert.
20 Manche Kapitel sind nicht Rechtsvorschriften, sondern blosse Ermahnungen,
wie das Gebot in Cap. I 59, c. 69, dass die Kinder ihre Eltern ehren sollen.
21 Boretius, Beiträge S 52. 64.

§ 54. Königsrecht und Kapitularien.
mannen heimgesuchten Gauen Grundbesitzer, denen ihre Häuser ver-
brannt worden waren. Solche Leute glaubten einen Freibrief für
Übelthaten zu haben, weil man sie, die im Rechtssinne für ansässige
Leute galten, nicht rechtmäſsig, das heiſst ad domum vorladen könne.
Ihre Verurteilung konnte nur erfolgen, wenn vorher der eidliche Be-
weis erbracht wurde, daſs sie „legibus“ vorgeladen worden seien.
Solchen Eid konnte mit Rücksicht auf den Wortlaut der Lex Salica
niemand auf sein Gewissen nehmen. Daher ordnete Karl der Kahle
mit Zustimmung seiner Getreuen an, daſs der Graf in solchem Falle
seinen Boten auf das Grundstück sende, wo früher das Haus des Be-
klagten gestanden hatte, um daselbst eine Scheinladung vorzunehmen.
Daraufhin dürften die Franken getrost schwören, daſs der Beklagte
dem königlichen Befehl gemäſs „legibus“ vorgeladen sei, „quoniam
lex consensu populi fit et constitutione regis“.

Die volkstümliche Kraft der Capitula legibus addenda äuſsert
sich, wenn ihre Aufhebung in Frage kommt. Sie können nur in der-
selben Weise auſser Kraft gesetzt werden, in der sie zur Geltung ge-
langt sind.

2. Die Capitula per se scribenda19 sind die eigentlichen könig-
lichen Verordnungen und bilden das geschriebene Königsrecht im
engeren Sinne. Dem Inhalte nach sind sie entweder Anordnungen
über die Verwaltung der königlichen Güter, oder transitorische Ver-
fügungen, oder Verordnungen welche dauernde Beachtung beanspruchen.
Ihre Tragweite reicht soweit, wie die verfassungsmäſsige Gewalt des
Königs und seines Beamtentums. Sie haben territoriale Geltung und
finden ihre Sanktion in der Banngewalt des Königs und seiner Be-
amten, in der Treue, welche der König auf Grund des Fidelitätseides
von den Unterthanen verlangt, den Vassallen und Beamten gegenüber
auch in dem Rechte des Königs, Lehen und Amt zu entziehen20. Die
meisten betreffen Gegenstände der Verwaltung, die Stellung der Be-
amten, die Verhältnisse der Kirche im Rahmen des weltlichen Rechtes,
die Aufrechthaltung des Landfriedens und der öffentlichen Ordnung,
Zoll, Münze und Verkehrswesen21. Vielfach handelt es sich um die
Ausführung und Einschärfung geltenden Rechtes, wie z. B. in den
Anordnungen über das Heerwesen. Manche Verordnungen schaffen

19 Der Ausdruck ist nur für die Aachener Kapitel von 818—19, Cap. I 285
überliefert.
20 Manche Kapitel sind nicht Rechtsvorschriften, sondern bloſse Ermahnungen,
wie das Gebot in Cap. I 59, c. 69, daſs die Kinder ihre Eltern ehren sollen.
21 Boretius, Beiträge S 52. 64.
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[380/0398] § 54. Königsrecht und Kapitularien. mannen heimgesuchten Gauen Grundbesitzer, denen ihre Häuser ver- brannt worden waren. Solche Leute glaubten einen Freibrief für Übelthaten zu haben, weil man sie, die im Rechtssinne für ansässige Leute galten, nicht rechtmäſsig, das heiſst ad domum vorladen könne. Ihre Verurteilung konnte nur erfolgen, wenn vorher der eidliche Be- weis erbracht wurde, daſs sie „legibus“ vorgeladen worden seien. Solchen Eid konnte mit Rücksicht auf den Wortlaut der Lex Salica niemand auf sein Gewissen nehmen. Daher ordnete Karl der Kahle mit Zustimmung seiner Getreuen an, daſs der Graf in solchem Falle seinen Boten auf das Grundstück sende, wo früher das Haus des Be- klagten gestanden hatte, um daselbst eine Scheinladung vorzunehmen. Daraufhin dürften die Franken getrost schwören, daſs der Beklagte dem königlichen Befehl gemäſs „legibus“ vorgeladen sei, „quoniam lex consensu populi fit et constitutione regis“. Die volkstümliche Kraft der Capitula legibus addenda äuſsert sich, wenn ihre Aufhebung in Frage kommt. Sie können nur in der- selben Weise auſser Kraft gesetzt werden, in der sie zur Geltung ge- langt sind. 2. Die Capitula per se scribenda 19 sind die eigentlichen könig- lichen Verordnungen und bilden das geschriebene Königsrecht im engeren Sinne. Dem Inhalte nach sind sie entweder Anordnungen über die Verwaltung der königlichen Güter, oder transitorische Ver- fügungen, oder Verordnungen welche dauernde Beachtung beanspruchen. Ihre Tragweite reicht soweit, wie die verfassungsmäſsige Gewalt des Königs und seines Beamtentums. Sie haben territoriale Geltung und finden ihre Sanktion in der Banngewalt des Königs und seiner Be- amten, in der Treue, welche der König auf Grund des Fidelitätseides von den Unterthanen verlangt, den Vassallen und Beamten gegenüber auch in dem Rechte des Königs, Lehen und Amt zu entziehen 20. Die meisten betreffen Gegenstände der Verwaltung, die Stellung der Be- amten, die Verhältnisse der Kirche im Rahmen des weltlichen Rechtes, die Aufrechthaltung des Landfriedens und der öffentlichen Ordnung, Zoll, Münze und Verkehrswesen 21. Vielfach handelt es sich um die Ausführung und Einschärfung geltenden Rechtes, wie z. B. in den Anordnungen über das Heerwesen. Manche Verordnungen schaffen 19 Der Ausdruck ist nur für die Aachener Kapitel von 818—19, Cap. I 285 überliefert. 20 Manche Kapitel sind nicht Rechtsvorschriften, sondern bloſse Ermahnungen, wie das Gebot in Cap. I 59, c. 69, daſs die Kinder ihre Eltern ehren sollen. 21 Boretius, Beiträge S 52. 64.

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Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887, S. 380. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte01_1887/398>, abgerufen am 21.11.2024.