auf Seiten der historischen Schule hat man sich die gleiche Notwendigkeit noch kaum klar gemacht. Man scheint hier manchmal ganz zu vergessen, daß alle wissenschaftliche Er- kenntnis mit der Feststellung von Begriffen beginnt und daß bloße Formbeschreibung eines Erscheinungsgebietes noch nicht das Wesen der Dinge gibt.
Die erste Frage, welche sich der Nationalökonom zu stellen hat, der die Wirtschaft eines Volkes in einer weit zurückliegenden Epoche verstehen will, wird die sein: Ist diese Wirtschaft Volkswirtschaft; sind ihre Erscheinungen wesensgleich mit denjenigen unserer heutigen Verkehrswirt- schaft, oder sind beide wesentlich von einander verschieden? Diese Frage aber kann nur beantwortet werden, wenn man es nicht verschmäht, die ökonomischen Erscheinungen der Vergangenheit mit denselben Mitteln der begrifflichen Zer- gliederung, der psychologisch-isolierenden Deduktion zu unter- suchen, die sich an der Wirtschaft der Gegenwart in den Händen der Meister der alten "abstrakten" Nationalökonomie so glänzend bewährt haben.
Man wird der historischen Schule den Vorwurf nicht ersparen können, daß sie, anstatt durch derartige Unter- suchungen in das Wesen früherer Wirtschaftsepochen ein- zudringen, fast unbesehen die gewohnten, von den Er- scheinungen der modernen Volkswirtschaft abstrahierten Kategorien auf die Vergangenheit übertragen, oder daß sie an den verkehrswirtschaftlichen Begriffen so lange herum- geknetet hat, bis sie wohl oder übel für alle Wirtschafts-
auf Seiten der hiſtoriſchen Schule hat man ſich die gleiche Notwendigkeit noch kaum klar gemacht. Man ſcheint hier manchmal ganz zu vergeſſen, daß alle wiſſenſchaftliche Er- kenntnis mit der Feſtſtellung von Begriffen beginnt und daß bloße Formbeſchreibung eines Erſcheinungsgebietes noch nicht das Weſen der Dinge gibt.
Die erſte Frage, welche ſich der Nationalökonom zu ſtellen hat, der die Wirtſchaft eines Volkes in einer weit zurückliegenden Epoche verſtehen will, wird die ſein: Iſt dieſe Wirtſchaft Volkswirtſchaft; ſind ihre Erſcheinungen weſensgleich mit denjenigen unſerer heutigen Verkehrswirt- ſchaft, oder ſind beide weſentlich von einander verſchieden? Dieſe Frage aber kann nur beantwortet werden, wenn man es nicht verſchmäht, die ökonomiſchen Erſcheinungen der Vergangenheit mit denſelben Mitteln der begrifflichen Zer- gliederung, der pſychologiſch-iſolierenden Deduktion zu unter- ſuchen, die ſich an der Wirtſchaft der Gegenwart in den Händen der Meiſter der alten „abſtrakten“ Nationalökonomie ſo glänzend bewährt haben.
Man wird der hiſtoriſchen Schule den Vorwurf nicht erſparen können, daß ſie, anſtatt durch derartige Unter- ſuchungen in das Weſen früherer Wirtſchaftsepochen ein- zudringen, faſt unbeſehen die gewohnten, von den Er- ſcheinungen der modernen Volkswirtſchaft abſtrahierten Kategorien auf die Vergangenheit übertragen, oder daß ſie an den verkehrswirtſchaftlichen Begriffen ſo lange herum- geknetet hat, bis ſie wohl oder übel für alle Wirtſchafts-
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auf Seiten der hiſtoriſchen Schule hat man ſich die gleiche
Notwendigkeit noch kaum klar gemacht. Man ſcheint hier
manchmal ganz zu vergeſſen, daß alle wiſſenſchaftliche Er-
kenntnis mit der Feſtſtellung von Begriffen beginnt und
daß bloße Formbeſchreibung eines Erſcheinungsgebietes noch
nicht das Weſen der Dinge gibt.
Die erſte Frage, welche ſich der Nationalökonom zu
ſtellen hat, der die Wirtſchaft eines Volkes in einer weit
zurückliegenden Epoche verſtehen will, wird die ſein: Iſt
dieſe Wirtſchaft Volkswirtſchaft; ſind ihre Erſcheinungen
weſensgleich mit denjenigen unſerer heutigen Verkehrswirt-
ſchaft, oder ſind beide weſentlich von einander verſchieden?
Dieſe Frage aber kann nur beantwortet werden, wenn man
es nicht verſchmäht, die ökonomiſchen Erſcheinungen der
Vergangenheit mit denſelben Mitteln der begrifflichen Zer-
gliederung, der pſychologiſch-iſolierenden Deduktion zu unter-
ſuchen, die ſich an der Wirtſchaft der Gegenwart in den
Händen der Meiſter der alten „abſtrakten“ Nationalökonomie
ſo glänzend bewährt haben.
Man wird der hiſtoriſchen Schule den Vorwurf nicht
erſparen können, daß ſie, anſtatt durch derartige Unter-
ſuchungen in das Weſen früherer Wirtſchaftsepochen ein-
zudringen, faſt unbeſehen die gewohnten, von den Er-
ſcheinungen der modernen Volkswirtſchaft abſtrahierten
Kategorien auf die Vergangenheit übertragen, oder daß ſie
an den verkehrswirtſchaftlichen Begriffen ſo lange herum-
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Bücher, Karl: Die Entstehung der Volkswirtschaft. Sechs Vorträge. Tübingen, 1893, S. 9. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/buecher_volkswirtschaft_1893/23>, abgerufen am 24.11.2024.
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