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Bücher, Karl: Die Entstehung der Volkswirtschaft. Sechs Vorträge. Tübingen, 1893.

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Viehhändler, welcher die Stadt aufsucht, um an der Börse
zu spekulieren, der von Fritz Reuter so trefflich geschilderte
mecklenburgische "Fetthammel", d. h. der reiche Bauer,
welcher nach der Gutsübergabe die Stadtfreuden genießen
will, die arme Pfarrerswitwe, welche in die Stadt zieht,
um ihren Kindern einen besseren Unterricht und ihrer kärg-
lichen Pension durch Halten von Pensionären eine Auf-
besserung zu Teil werden zu lassen: sie alle treten an ihren
neuen Wohnorten nicht als gefährliche Mitbewerber der
eingeborenen Arbeiterbevölkerung auf.

Und doch spielen sich an den Zielpunkten der Wande-
rung auch in solchen Fällen, wo keine Verdrängungsgefahr
in Frage kommen kann, zahllose Kämpfe und Reibungen
ab, welche alle auf den sozialen Amalgamierungsprozeß zu-
rückzuführen sind, der hier immer zwischen eingeborener
und eingewanderter Bevölkerung stattfindet. Der Fremde
hat sich den vorhandenen Lebensbedingungen, der eigentüm-
lichen örtlichen Wirtschaftsweise, der Sitte, der Mundart,
den politischen, kirchlichen, sozialen Einrichtungen seines
neuen Wohnortes anzupassen. Und die Bevölkerung des
letzteren selbst wieder, so gefestigt und eigenartig sie in sich
dastehen mag, kann sich den zahlreichen fremden Einflüssen,
welche auf sie einstürmen, nicht vollständig entziehen. Be-
deutet für sie diese Einwirkung manchmal eine Steigerung
der Arbeitsenergie, eine Erweiterung des Gesichtskreises,
einen frischen Luftzug in verrottete örtliche Zustände, so
wird vielleicht noch viel häufiger ein Verlust an guter alter

Viehhändler, welcher die Stadt aufſucht, um an der Börſe
zu ſpekulieren, der von Fritz Reuter ſo trefflich geſchilderte
mecklenburgiſche „Fetthammel“, d. h. der reiche Bauer,
welcher nach der Gutsübergabe die Stadtfreuden genießen
will, die arme Pfarrerswitwe, welche in die Stadt zieht,
um ihren Kindern einen beſſeren Unterricht und ihrer kärg-
lichen Penſion durch Halten von Penſionären eine Auf-
beſſerung zu Teil werden zu laſſen: ſie alle treten an ihren
neuen Wohnorten nicht als gefährliche Mitbewerber der
eingeborenen Arbeiterbevölkerung auf.

Und doch ſpielen ſich an den Zielpunkten der Wande-
rung auch in ſolchen Fällen, wo keine Verdrängungsgefahr
in Frage kommen kann, zahlloſe Kämpfe und Reibungen
ab, welche alle auf den ſozialen Amalgamierungsprozeß zu-
rückzuführen ſind, der hier immer zwiſchen eingeborener
und eingewanderter Bevölkerung ſtattfindet. Der Fremde
hat ſich den vorhandenen Lebensbedingungen, der eigentüm-
lichen örtlichen Wirtſchaftsweiſe, der Sitte, der Mundart,
den politiſchen, kirchlichen, ſozialen Einrichtungen ſeines
neuen Wohnortes anzupaſſen. Und die Bevölkerung des
letzteren ſelbſt wieder, ſo gefeſtigt und eigenartig ſie in ſich
daſtehen mag, kann ſich den zahlreichen fremden Einflüſſen,
welche auf ſie einſtürmen, nicht vollſtändig entziehen. Be-
deutet für ſie dieſe Einwirkung manchmal eine Steigerung
der Arbeitsenergie, eine Erweiterung des Geſichtskreiſes,
einen friſchen Luftzug in verrottete örtliche Zuſtände, ſo
wird vielleicht noch viel häufiger ein Verluſt an guter alter

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[280/0302] Viehhändler, welcher die Stadt aufſucht, um an der Börſe zu ſpekulieren, der von Fritz Reuter ſo trefflich geſchilderte mecklenburgiſche „Fetthammel“, d. h. der reiche Bauer, welcher nach der Gutsübergabe die Stadtfreuden genießen will, die arme Pfarrerswitwe, welche in die Stadt zieht, um ihren Kindern einen beſſeren Unterricht und ihrer kärg- lichen Penſion durch Halten von Penſionären eine Auf- beſſerung zu Teil werden zu laſſen: ſie alle treten an ihren neuen Wohnorten nicht als gefährliche Mitbewerber der eingeborenen Arbeiterbevölkerung auf. Und doch ſpielen ſich an den Zielpunkten der Wande- rung auch in ſolchen Fällen, wo keine Verdrängungsgefahr in Frage kommen kann, zahlloſe Kämpfe und Reibungen ab, welche alle auf den ſozialen Amalgamierungsprozeß zu- rückzuführen ſind, der hier immer zwiſchen eingeborener und eingewanderter Bevölkerung ſtattfindet. Der Fremde hat ſich den vorhandenen Lebensbedingungen, der eigentüm- lichen örtlichen Wirtſchaftsweiſe, der Sitte, der Mundart, den politiſchen, kirchlichen, ſozialen Einrichtungen ſeines neuen Wohnortes anzupaſſen. Und die Bevölkerung des letzteren ſelbſt wieder, ſo gefeſtigt und eigenartig ſie in ſich daſtehen mag, kann ſich den zahlreichen fremden Einflüſſen, welche auf ſie einſtürmen, nicht vollſtändig entziehen. Be- deutet für ſie dieſe Einwirkung manchmal eine Steigerung der Arbeitsenergie, eine Erweiterung des Geſichtskreiſes, einen friſchen Luftzug in verrottete örtliche Zuſtände, ſo wird vielleicht noch viel häufiger ein Verluſt an guter alter

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Zitationshilfe: Bücher, Karl: Die Entstehung der Volkswirtschaft. Sechs Vorträge. Tübingen, 1893, S. 280. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/buecher_volkswirtschaft_1893/302>, abgerufen am 21.11.2024.