nen muß, irgend eine absolute Werthbestimmung für den Begriff des Guten zu gewinnen. An tausend und aber tausend Beispielen des täglichen Lebens ließe sich dies mit Leichtigkeit nachweisen. "Du sollst nicht tödten", lautet ein Gesetz der Moral; aber der Krieg tödtet viele Tausende, ohne daß man seine Urheber eines Verbrechens beschuldigt, und in der Vernichtung seiner Feinde ent- wickelte der Mensch von je seine höchsten Großthaten, seine größten Tugenden. Und wie viele Todtschläger wird man finden, welche nicht glauben, ein Recht zu ihrer That gehabt zu haben! "Du sollst nicht stehlen", lautet ein zweites Gebot des Sittengesetzes. Aber bei manchen Völkern gilt der Diebstahl für eine Tugend, und der Arme, welcher dem mehr Besitzenden etwas nimmt, denkt damit nicht im Entferntesten ein Unrecht zu thun, sondern nur sein natürliches Anrecht an den materiellen Besitzstand der Menschheit geltend zu machen. "Du sollst nicht ehebrechen!" Aber die Ehe ist bekannter- maßen ein zufälliges und rein menschliches Jnstitut, welches von verschiedenen Völkern oder verschiedenen Gesellschaften in höchst verschiedener Weise angeordnet wird; und die Moralgebote, welche sich auf die Ehe be- ziehen, sind willkührliche und äußerliche, an die sich das eigne Gewissen selten für gebunden erachtet. Als höchstes Gebot der Moral und Selbstverleugnung verlangt eine gewisse religiöse Lehre, daß man seinen Feind lieben
nen muß, irgend eine abſolute Werthbeſtimmung für den Begriff des Guten zu gewinnen. An tauſend und aber tauſend Beiſpielen des täglichen Lebens ließe ſich dies mit Leichtigkeit nachweiſen. „Du ſollſt nicht tödten‟, lautet ein Geſetz der Moral; aber der Krieg tödtet viele Tauſende, ohne daß man ſeine Urheber eines Verbrechens beſchuldigt, und in der Vernichtung ſeiner Feinde ent- wickelte der Menſch von je ſeine höchſten Großthaten, ſeine größten Tugenden. Und wie viele Todtſchläger wird man finden, welche nicht glauben, ein Recht zu ihrer That gehabt zu haben! „Du ſollſt nicht ſtehlen‟, lautet ein zweites Gebot des Sittengeſetzes. Aber bei manchen Völkern gilt der Diebſtahl für eine Tugend, und der Arme, welcher dem mehr Beſitzenden etwas nimmt, denkt damit nicht im Entfernteſten ein Unrecht zu thun, ſondern nur ſein natürliches Anrecht an den materiellen Beſitzſtand der Menſchheit geltend zu machen. „Du ſollſt nicht ehebrechen!‟ Aber die Ehe iſt bekannter- maßen ein zufälliges und rein menſchliches Jnſtitut, welches von verſchiedenen Völkern oder verſchiedenen Geſellſchaften in höchſt verſchiedener Weiſe angeordnet wird; und die Moralgebote, welche ſich auf die Ehe be- ziehen, ſind willkührliche und äußerliche, an die ſich das eigne Gewiſſen ſelten für gebunden erachtet. Als höchſtes Gebot der Moral und Selbſtverleugnung verlangt eine gewiſſe religiöſe Lehre, daß man ſeinen Feind lieben
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nen muß, irgend eine abſolute Werthbeſtimmung für den
Begriff des Guten zu gewinnen. An tauſend und aber
tauſend Beiſpielen des täglichen Lebens ließe ſich dies
mit Leichtigkeit nachweiſen. „Du ſollſt nicht tödten‟,
lautet ein Geſetz der Moral; aber der Krieg tödtet viele
Tauſende, ohne daß man ſeine Urheber eines Verbrechens
beſchuldigt, und in der Vernichtung ſeiner Feinde ent-
wickelte der Menſch von je ſeine höchſten Großthaten,
ſeine größten Tugenden. Und wie viele Todtſchläger
wird man finden, welche nicht glauben, ein Recht zu
ihrer That gehabt zu haben! „Du ſollſt nicht ſtehlen‟,
lautet ein zweites Gebot des Sittengeſetzes. Aber bei
manchen Völkern gilt der Diebſtahl für eine Tugend, und
der Arme, welcher dem mehr Beſitzenden etwas nimmt,
denkt damit nicht im Entfernteſten ein Unrecht zu thun,
ſondern nur ſein natürliches Anrecht an den materiellen
Beſitzſtand der Menſchheit geltend zu machen. „Du
ſollſt nicht ehebrechen!‟ Aber die Ehe iſt bekannter-
maßen ein zufälliges und rein menſchliches Jnſtitut,
welches von verſchiedenen Völkern oder verſchiedenen
Geſellſchaften in höchſt verſchiedener Weiſe angeordnet
wird; und die Moralgebote, welche ſich auf die Ehe be-
ziehen, ſind willkührliche und äußerliche, an die ſich das
eigne Gewiſſen ſelten für gebunden erachtet. Als höchſtes
Gebot der Moral und Selbſtverleugnung verlangt eine
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Büchner, Ludwig: Kraft und Stoff. Frankfurt (Main), 1855, S. 245. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/buechner_kraft_1855/265>, abgerufen am 24.11.2024.
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