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Büchner, Georg: Sämmtliche Werke und handschriftlicher Nachlaß. Frankfurt (Main), 1879.

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freiungs-Versuche fielen nicht besser aus. Zwei Wächter waren
bestochen, der Kerkermeister sollte durch Opium betäubt werden,
auch war bereits Vorsorge für die Beförderung der Befreiten
über die Grenze getroffen. Aber die Ausführung verzögerte
sich, weil vorher die Genesung des schwer erkrankten Minnige-
rode abgewartet werden sollte, und als man sich endlich trotz-
dem zum Handeln entschloß, war es zu spät. Einer der be-
stochenen Wächter verrieth den Plan und die Gefangenen
wurden schärfer bewacht, als früher.

Diese Mißerfolge verstimmten Büchner immer mehr
und oft genug klagte er seinem treuen Wilhelm, daß sich
kein Mensch unglücklicher fühlen könne als er. War schon
sein seltsames Doppelleben, bei Tage als demüthiger Ge-
fangener, der sein vorgeschriebenes Pensum Anatomie erledigen
mußte, des Nachts als Dictator einer phantastisch aufge-
regten Bande, vollauf geeignet, selbst stärkere Nerven, als er
sie hatte, auf's Höchste zu irritiren, so quälte ihn noch oben-
drein bitterste und leider auch begründete Reue. Er klagte
sich an, seine Eltern betrogen, seine Freunde verführt zu
haben, und verurtheilte seine Handlungsweise in den schärfsten
Ausdrücken. Aber just in diesen Tagen äußerer Aufregung
und innerer Selbstqual erwachte in ihm plötzlich und mächtig
der Drang nach poetischer Production; zum ersten Male in
seinem Leben, sofern man von jenen schwächlichen lyrischen
Versuchen seiner Knabenzeit absieht. Das klingt auffällig
genug, wird uns aber erklärlich, wenn wir aus seines Bruders
Mittheilungen ersehen, daß er zunächst nur eine politisch-
sociale Tendenz-Dichtung schreiben wollte. Seine erste
Intention erhob sich nicht viel über jene, welche ihm beim
"Landboten" die Feder geführt: trostlos und an dem Siege

freiungs-Verſuche fielen nicht beſſer aus. Zwei Wächter waren
beſtochen, der Kerkermeiſter ſollte durch Opium betäubt werden,
auch war bereits Vorſorge für die Beförderung der Befreiten
über die Grenze getroffen. Aber die Ausführung verzögerte
ſich, weil vorher die Geneſung des ſchwer erkrankten Minnige-
rode abgewartet werden ſollte, und als man ſich endlich trotz-
dem zum Handeln entſchloß, war es zu ſpät. Einer der be-
ſtochenen Wächter verrieth den Plan und die Gefangenen
wurden ſchärfer bewacht, als früher.

Dieſe Mißerfolge verſtimmten Büchner immer mehr
und oft genug klagte er ſeinem treuen Wilhelm, daß ſich
kein Menſch unglücklicher fühlen könne als er. War ſchon
ſein ſeltſames Doppelleben, bei Tage als demüthiger Ge-
fangener, der ſein vorgeſchriebenes Penſum Anatomie erledigen
mußte, des Nachts als Dictator einer phantaſtiſch aufge-
regten Bande, vollauf geeignet, ſelbſt ſtärkere Nerven, als er
ſie hatte, auf's Höchſte zu irritiren, ſo quälte ihn noch oben-
drein bitterſte und leider auch begründete Reue. Er klagte
ſich an, ſeine Eltern betrogen, ſeine Freunde verführt zu
haben, und verurtheilte ſeine Handlungsweiſe in den ſchärfſten
Ausdrücken. Aber juſt in dieſen Tagen äußerer Aufregung
und innerer Selbſtqual erwachte in ihm plötzlich und mächtig
der Drang nach poetiſcher Production; zum erſten Male in
ſeinem Leben, ſofern man von jenen ſchwächlichen lyriſchen
Verſuchen ſeiner Knabenzeit abſieht. Das klingt auffällig
genug, wird uns aber erklärlich, wenn wir aus ſeines Bruders
Mittheilungen erſehen, daß er zunächſt nur eine politiſch-
ſociale Tendenz-Dichtung ſchreiben wollte. Seine erſte
Intention erhob ſich nicht viel über jene, welche ihm beim
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Zitationshilfe: Büchner, Georg: Sämmtliche Werke und handschriftlicher Nachlaß. Frankfurt (Main), 1879, S. CLIII. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/buechner_werke_1879/169>, abgerufen am 23.11.2024.