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Büchner, Georg: Sämmtliche Werke und handschriftlicher Nachlaß. Frankfurt (Main), 1879.

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er stieß an die Steine, er riß sich mit den Nägeln; -- der
Schmerz fing an, ihm das Bewußtsein wiederzugeben, er
stürzte sich in den Brunnenstein, aber das Wasser war nicht
tief, er patschte darin. Da kamen Leute, man hatte es ge-
hört, man rief ihm zu. Oberlin kam gelaufen; Lenz war
wieder zu sich gekommen, das ganze Bewußtsein seiner Lage
stand vor ihm, es war ihm wieder leicht. Jetzt schämte er
sich und war betrübt, daß er den guten Leuten Angst ge-
macht; er sagte ihnen, daß er gewohnt sei, kalt zu baden,
und ging wieder hinauf; die Erschöpfung ließ ihn endlich
ruhen.

Den andern Tag ging es gut. Mit Oberlin zu Pferde
durch das Thal: breite Bergflächen, die aus großer Höhe
sich in ein schmales, gewundenes Thal zusammenzogen, das
in mannichfachen Richtungen sich hoch an den Bergen hinauf-
zog; große Felsenmassen, die sich nach unten ausbreiteten,
wenig Wald, aber alles im grauen, ernsten Anflug, eine
Aussicht nach Westen in das Land hinein und auf die Berg-
kette, die sich gerade hinunter nach Süden und Norden zog,
und deren Gipfel gewaltig, ernsthaft oder schweigend still,
wie ein dämmernder Traum, standen. Gewaltige Licht-
massen, die manchmal aus den Thälern, wie ein goldner
Strom, schwollen, dann wieder Gewölk, das an dem höchsten
Gipfel lag und dann langsam den Wald herab in das Thal
klomm oder in den Sonnenblitzen sich wie ein fliegendes,
silbernes Gespenst herabsenkte und hob; kein Lärm, keine
Bewegung, kein Vogel, nichts als das bald nahe, bald ferne
Wehen des Windes. Auch erschienen Punkte, Gerippe von
Hütten, Bretter mit Stroh gedeckt, von schwarzer, ernster
Farbe. Die Leute schweigend und ernst, als wagten sie die

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er ſtieß an die Steine, er riß ſich mit den Nägeln; — der
Schmerz fing an, ihm das Bewußtſein wiederzugeben, er
ſtürzte ſich in den Brunnenſtein, aber das Waſſer war nicht
tief, er patſchte darin. Da kamen Leute, man hatte es ge-
hört, man rief ihm zu. Oberlin kam gelaufen; Lenz war
wieder zu ſich gekommen, das ganze Bewußtſein ſeiner Lage
ſtand vor ihm, es war ihm wieder leicht. Jetzt ſchämte er
ſich und war betrübt, daß er den guten Leuten Angſt ge-
macht; er ſagte ihnen, daß er gewohnt ſei, kalt zu baden,
und ging wieder hinauf; die Erſchöpfung ließ ihn endlich
ruhen.

Den andern Tag ging es gut. Mit Oberlin zu Pferde
durch das Thal: breite Bergflächen, die aus großer Höhe
ſich in ein ſchmales, gewundenes Thal zuſammenzogen, das
in mannichfachen Richtungen ſich hoch an den Bergen hinauf-
zog; große Felſenmaſſen, die ſich nach unten ausbreiteten,
wenig Wald, aber alles im grauen, ernſten Anflug, eine
Ausſicht nach Weſten in das Land hinein und auf die Berg-
kette, die ſich gerade hinunter nach Süden und Norden zog,
und deren Gipfel gewaltig, ernſthaft oder ſchweigend ſtill,
wie ein dämmernder Traum, ſtanden. Gewaltige Licht-
maſſen, die manchmal aus den Thälern, wie ein goldner
Strom, ſchwollen, dann wieder Gewölk, das an dem höchſten
Gipfel lag und dann langſam den Wald herab in das Thal
klomm oder in den Sonnenblitzen ſich wie ein fliegendes,
ſilbernes Geſpenſt herabſenkte und hob; kein Lärm, keine
Bewegung, kein Vogel, nichts als das bald nahe, bald ferne
Wehen des Windes. Auch erſchienen Punkte, Gerippe von
Hütten, Bretter mit Stroh gedeckt, von ſchwarzer, ernſter
Farbe. Die Leute ſchweigend und ernſt, als wagten ſie die

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[211/0407] er ſtieß an die Steine, er riß ſich mit den Nägeln; — der Schmerz fing an, ihm das Bewußtſein wiederzugeben, er ſtürzte ſich in den Brunnenſtein, aber das Waſſer war nicht tief, er patſchte darin. Da kamen Leute, man hatte es ge- hört, man rief ihm zu. Oberlin kam gelaufen; Lenz war wieder zu ſich gekommen, das ganze Bewußtſein ſeiner Lage ſtand vor ihm, es war ihm wieder leicht. Jetzt ſchämte er ſich und war betrübt, daß er den guten Leuten Angſt ge- macht; er ſagte ihnen, daß er gewohnt ſei, kalt zu baden, und ging wieder hinauf; die Erſchöpfung ließ ihn endlich ruhen. Den andern Tag ging es gut. Mit Oberlin zu Pferde durch das Thal: breite Bergflächen, die aus großer Höhe ſich in ein ſchmales, gewundenes Thal zuſammenzogen, das in mannichfachen Richtungen ſich hoch an den Bergen hinauf- zog; große Felſenmaſſen, die ſich nach unten ausbreiteten, wenig Wald, aber alles im grauen, ernſten Anflug, eine Ausſicht nach Weſten in das Land hinein und auf die Berg- kette, die ſich gerade hinunter nach Süden und Norden zog, und deren Gipfel gewaltig, ernſthaft oder ſchweigend ſtill, wie ein dämmernder Traum, ſtanden. Gewaltige Licht- maſſen, die manchmal aus den Thälern, wie ein goldner Strom, ſchwollen, dann wieder Gewölk, das an dem höchſten Gipfel lag und dann langſam den Wald herab in das Thal klomm oder in den Sonnenblitzen ſich wie ein fliegendes, ſilbernes Geſpenſt herabſenkte und hob; kein Lärm, keine Bewegung, kein Vogel, nichts als das bald nahe, bald ferne Wehen des Windes. Auch erſchienen Punkte, Gerippe von Hütten, Bretter mit Stroh gedeckt, von ſchwarzer, ernſter Farbe. Die Leute ſchweigend und ernſt, als wagten ſie die 14 *

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Zitationshilfe: Büchner, Georg: Sämmtliche Werke und handschriftlicher Nachlaß. Frankfurt (Main), 1879, S. 211. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/buechner_werke_1879/407>, abgerufen am 21.11.2024.