Ruhe ihres Thales nicht zu stören, grüßten ruhig, wie sie vorbeiritten. In den Hütten war es lebendig, man drängte sich um Oberlin, er wies zurecht, gab Rath, tröstete; über- all zutrauensvolle Blicke, Gebet. Die Leute erzählten Träume, Ahnungen. Dann rasch ins praktische Leben, Wege ange- legt, Kanäle gegraben, die Schule besucht. Oberlin war unermüdlich, Lenz fortwährend sein Begleiter, bald in Ge- spräch, bald thätig am Geschäft, bald in die Natur ver- sunken. Es wirkte Alles wohlthätig und beruhigend auf ihn, er mußte Oberlin oft in die Augen sehen, und die mächtige Ruhe, die uns über der ruhenden Natur, im tiefen Wald, in mondhellen, schmelzenden Sommernächten überfällt, schien ihm noch näher in diesem ruhigen Auge, diesem ehr- würdigen ernsten Gesicht. Er war schüchtern; aber er machte Bemerkungen, er sprach. Oberlin war sein Gespräch sehr angenehm, und das anmuthige Kindergesicht Lenzen's machte ihm große Freude. Aber nur so lange das Licht im Thale lag, war es ihm erträglich; gegen Abend befiel ihn eine sonderbare Angst, er hätte der Sonne nachlaufen mögen; wie die Gegenstände nach und nach schattiger wurden, kam ihm Alles so traumartig, so zuwider vor, es kam ihm die Angst an wie Kindern, die im Dunkeln schlafen; es war ihm als sei er blind; jetzt wuchs sie, der Alp des Wahn- sinns setzte sich zu seinen Füßen, der rettungslose Gedanke, als sei Alles nur sein Traum, öffnete sich vor ihm, er klammerte sich an alle Gegenstände; Gestalten zogen rasch an ihm vorbei, er drängte sich an sie, es waren Schatten, das Leben wich aus ihm und seine Glieder waren ganz starr. Er sprach, er sang, er recitirte Stellen aus Shak- speare, er griff nach Allem, was sein Blut sonst hatte
Ruhe ihres Thales nicht zu ſtören, grüßten ruhig, wie ſie vorbeiritten. In den Hütten war es lebendig, man drängte ſich um Oberlin, er wies zurecht, gab Rath, tröſtete; über- all zutrauensvolle Blicke, Gebet. Die Leute erzählten Träume, Ahnungen. Dann raſch ins praktiſche Leben, Wege ange- legt, Kanäle gegraben, die Schule beſucht. Oberlin war unermüdlich, Lenz fortwährend ſein Begleiter, bald in Ge- ſpräch, bald thätig am Geſchäft, bald in die Natur ver- ſunken. Es wirkte Alles wohlthätig und beruhigend auf ihn, er mußte Oberlin oft in die Augen ſehen, und die mächtige Ruhe, die uns über der ruhenden Natur, im tiefen Wald, in mondhellen, ſchmelzenden Sommernächten überfällt, ſchien ihm noch näher in dieſem ruhigen Auge, dieſem ehr- würdigen ernſten Geſicht. Er war ſchüchtern; aber er machte Bemerkungen, er ſprach. Oberlin war ſein Geſpräch ſehr angenehm, und das anmuthige Kindergeſicht Lenzen's machte ihm große Freude. Aber nur ſo lange das Licht im Thale lag, war es ihm erträglich; gegen Abend befiel ihn eine ſonderbare Angſt, er hätte der Sonne nachlaufen mögen; wie die Gegenſtände nach und nach ſchattiger wurden, kam ihm Alles ſo traumartig, ſo zuwider vor, es kam ihm die Angſt an wie Kindern, die im Dunkeln ſchlafen; es war ihm als ſei er blind; jetzt wuchs ſie, der Alp des Wahn- ſinns ſetzte ſich zu ſeinen Füßen, der rettungsloſe Gedanke, als ſei Alles nur ſein Traum, öffnete ſich vor ihm, er klammerte ſich an alle Gegenſtände; Geſtalten zogen raſch an ihm vorbei, er drängte ſich an ſie, es waren Schatten, das Leben wich aus ihm und ſeine Glieder waren ganz ſtarr. Er ſprach, er ſang, er recitirte Stellen aus Shak- ſpeare, er griff nach Allem, was ſein Blut ſonſt hatte
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0408"n="212"/>
Ruhe ihres Thales nicht zu ſtören, grüßten ruhig, wie ſie<lb/>
vorbeiritten. In den Hütten war es lebendig, man drängte<lb/>ſich um Oberlin, er wies zurecht, gab Rath, tröſtete; über-<lb/>
all zutrauensvolle Blicke, Gebet. Die Leute erzählten Träume,<lb/>
Ahnungen. Dann raſch ins praktiſche Leben, Wege ange-<lb/>
legt, Kanäle gegraben, die Schule beſucht. Oberlin war<lb/>
unermüdlich, Lenz fortwährend ſein Begleiter, bald in Ge-<lb/>ſpräch, bald thätig am Geſchäft, bald in die Natur ver-<lb/>ſunken. Es wirkte Alles wohlthätig und beruhigend auf<lb/>
ihn, er mußte Oberlin oft in die Augen ſehen, und die<lb/>
mächtige Ruhe, die uns über der ruhenden Natur, im tiefen<lb/>
Wald, in mondhellen, ſchmelzenden Sommernächten überfällt,<lb/>ſchien ihm noch näher in dieſem ruhigen Auge, dieſem ehr-<lb/>
würdigen ernſten Geſicht. Er war ſchüchtern; aber er<lb/>
machte Bemerkungen, er ſprach. Oberlin war ſein Geſpräch<lb/>ſehr angenehm, und das anmuthige Kindergeſicht Lenzen's<lb/>
machte ihm große Freude. Aber nur ſo lange das Licht im<lb/>
Thale lag, war es ihm erträglich; gegen Abend befiel ihn<lb/>
eine ſonderbare Angſt, er hätte der Sonne nachlaufen mögen;<lb/>
wie die Gegenſtände nach und nach ſchattiger wurden, kam<lb/>
ihm Alles ſo traumartig, ſo zuwider vor, es kam ihm die<lb/>
Angſt an wie Kindern, die im Dunkeln ſchlafen; es war<lb/>
ihm als ſei er blind; jetzt wuchs ſie, der Alp des Wahn-<lb/>ſinns ſetzte ſich zu ſeinen Füßen, der rettungsloſe Gedanke,<lb/>
als ſei Alles nur ſein Traum, öffnete ſich vor ihm, er<lb/>
klammerte ſich an alle Gegenſtände; Geſtalten zogen raſch<lb/>
an ihm vorbei, er drängte ſich an ſie, es waren Schatten,<lb/>
das Leben wich aus ihm und ſeine Glieder waren ganz<lb/>ſtarr. Er ſprach, er ſang, er recitirte Stellen aus Shak-<lb/>ſpeare, er griff nach Allem, was ſein Blut ſonſt hatte<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[212/0408]
Ruhe ihres Thales nicht zu ſtören, grüßten ruhig, wie ſie
vorbeiritten. In den Hütten war es lebendig, man drängte
ſich um Oberlin, er wies zurecht, gab Rath, tröſtete; über-
all zutrauensvolle Blicke, Gebet. Die Leute erzählten Träume,
Ahnungen. Dann raſch ins praktiſche Leben, Wege ange-
legt, Kanäle gegraben, die Schule beſucht. Oberlin war
unermüdlich, Lenz fortwährend ſein Begleiter, bald in Ge-
ſpräch, bald thätig am Geſchäft, bald in die Natur ver-
ſunken. Es wirkte Alles wohlthätig und beruhigend auf
ihn, er mußte Oberlin oft in die Augen ſehen, und die
mächtige Ruhe, die uns über der ruhenden Natur, im tiefen
Wald, in mondhellen, ſchmelzenden Sommernächten überfällt,
ſchien ihm noch näher in dieſem ruhigen Auge, dieſem ehr-
würdigen ernſten Geſicht. Er war ſchüchtern; aber er
machte Bemerkungen, er ſprach. Oberlin war ſein Geſpräch
ſehr angenehm, und das anmuthige Kindergeſicht Lenzen's
machte ihm große Freude. Aber nur ſo lange das Licht im
Thale lag, war es ihm erträglich; gegen Abend befiel ihn
eine ſonderbare Angſt, er hätte der Sonne nachlaufen mögen;
wie die Gegenſtände nach und nach ſchattiger wurden, kam
ihm Alles ſo traumartig, ſo zuwider vor, es kam ihm die
Angſt an wie Kindern, die im Dunkeln ſchlafen; es war
ihm als ſei er blind; jetzt wuchs ſie, der Alp des Wahn-
ſinns ſetzte ſich zu ſeinen Füßen, der rettungsloſe Gedanke,
als ſei Alles nur ſein Traum, öffnete ſich vor ihm, er
klammerte ſich an alle Gegenſtände; Geſtalten zogen raſch
an ihm vorbei, er drängte ſich an ſie, es waren Schatten,
das Leben wich aus ihm und ſeine Glieder waren ganz
ſtarr. Er ſprach, er ſang, er recitirte Stellen aus Shak-
ſpeare, er griff nach Allem, was ſein Blut ſonſt hatte
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Büchner, Georg: Sämmtliche Werke und handschriftlicher Nachlaß. Frankfurt (Main), 1879, S. 212. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/buechner_werke_1879/408>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.