am ganzen Leibe bebend und zitternd. Oberlin empfand unendliches Mitleid, die Familie lag auf den Knieen und betete für den Unglücklichen, die Mägde flohen und hielten ihn für einen Besessenen. Und wenn er ruhiger wurde, war es wie der Jammer eines Kindes, er schluchzte, er empfand ein tiefes, tiefes Mitleid mit sich selbst; das waren auch seine seligsten Augenblicke. Oberlin sprach von Gott. Lenz wand sich ruhig los und sah ihn mit einem Ausdruck unendlichen Leidens an und sagte endlich: aber ich, wär' ich allmächtig, sehen Sie, wenn ich so wäre, ich könnte das Leiden nicht ertragen, ich würde retten, retten; ich will ja nichts als Ruhe, Ruhe, nur ein wenig Ruhe, um schlafen zu können. Oberlin sagte, dies sei eine Profanation. Lenz schüttelte trostlos mit dem Kopfe. Die halben Versuche zum Entleiben, die er indeß fortwährend machte, waren nicht ganz Ernst. Es war weniger der Wunsch des Todes -- für ihn war ja keine Ruhe und Hoffnung im Tode, -- es war mehr in Augenblicken der fürchterlichsten Angst oder der dumpfen, ans Nichtsein gränzenden Ruhe ein Versuch, sich zu sich selbst zu bringen durch physischen Schmerz. Augenblicke, worin sein Geist sonst auf irgend einer wahn- witzigen Idee zu reiten schien, waren noch die glücklichsten. Es war doch ein wenig Ruhe, und sein wirrer Blick war nicht so entsetzlich, als die nach Rettung dürstende Angst, die ewige Qual der Unruhe! Oft schlug er sich den Kopf an die Wand oder verursachte sich sonst einen heftigen physischen Schmerz.
Den 8. Morgens blieb er im Bette, Oberlin ging hinauf; er lag fast nackt auf dem Bette und war heftig bewegt. Oberlin wollte ihn zudecken, er klagte aber sehr,
am ganzen Leibe bebend und zitternd. Oberlin empfand unendliches Mitleid, die Familie lag auf den Knieen und betete für den Unglücklichen, die Mägde flohen und hielten ihn für einen Beſeſſenen. Und wenn er ruhiger wurde, war es wie der Jammer eines Kindes, er ſchluchzte, er empfand ein tiefes, tiefes Mitleid mit ſich ſelbſt; das waren auch ſeine ſeligſten Augenblicke. Oberlin ſprach von Gott. Lenz wand ſich ruhig los und ſah ihn mit einem Ausdruck unendlichen Leidens an und ſagte endlich: aber ich, wär' ich allmächtig, ſehen Sie, wenn ich ſo wäre, ich könnte das Leiden nicht ertragen, ich würde retten, retten; ich will ja nichts als Ruhe, Ruhe, nur ein wenig Ruhe, um ſchlafen zu können. Oberlin ſagte, dies ſei eine Profanation. Lenz ſchüttelte troſtlos mit dem Kopfe. Die halben Verſuche zum Entleiben, die er indeß fortwährend machte, waren nicht ganz Ernſt. Es war weniger der Wunſch des Todes — für ihn war ja keine Ruhe und Hoffnung im Tode, — es war mehr in Augenblicken der fürchterlichſten Angſt oder der dumpfen, ans Nichtſein gränzenden Ruhe ein Verſuch, ſich zu ſich ſelbſt zu bringen durch phyſiſchen Schmerz. Augenblicke, worin ſein Geiſt ſonſt auf irgend einer wahn- witzigen Idee zu reiten ſchien, waren noch die glücklichſten. Es war doch ein wenig Ruhe, und ſein wirrer Blick war nicht ſo entſetzlich, als die nach Rettung dürſtende Angſt, die ewige Qual der Unruhe! Oft ſchlug er ſich den Kopf an die Wand oder verurſachte ſich ſonſt einen heftigen phyſiſchen Schmerz.
Den 8. Morgens blieb er im Bette, Oberlin ging hinauf; er lag faſt nackt auf dem Bette und war heftig bewegt. Oberlin wollte ihn zudecken, er klagte aber ſehr,
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0433"n="237"/>
am ganzen Leibe bebend und zitternd. Oberlin empfand<lb/>
unendliches Mitleid, die Familie lag auf den Knieen und<lb/>
betete für den Unglücklichen, die Mägde flohen und hielten<lb/>
ihn für einen Beſeſſenen. Und wenn er ruhiger wurde,<lb/>
war es wie der Jammer eines Kindes, er ſchluchzte, er<lb/>
empfand ein tiefes, tiefes Mitleid mit ſich ſelbſt; das waren<lb/>
auch ſeine ſeligſten Augenblicke. Oberlin ſprach von Gott.<lb/>
Lenz wand ſich ruhig los und ſah ihn mit einem Ausdruck<lb/>
unendlichen Leidens an und ſagte endlich: aber ich, wär'<lb/>
ich allmächtig, ſehen Sie, wenn ich ſo wäre, ich könnte das<lb/>
Leiden nicht ertragen, ich würde retten, retten; ich will ja<lb/>
nichts als Ruhe, Ruhe, nur ein wenig Ruhe, um ſchlafen<lb/>
zu können. Oberlin ſagte, dies ſei eine Profanation. Lenz<lb/>ſchüttelte troſtlos mit dem Kopfe. Die halben Verſuche<lb/>
zum Entleiben, die er indeß fortwährend machte, waren<lb/>
nicht ganz Ernſt. Es war weniger der Wunſch des Todes<lb/>— für ihn war ja keine Ruhe und Hoffnung im Tode, —<lb/>
es war mehr in Augenblicken der fürchterlichſten Angſt oder<lb/>
der dumpfen, ans Nichtſein gränzenden Ruhe ein Verſuch,<lb/>ſich zu ſich ſelbſt zu bringen durch phyſiſchen Schmerz.<lb/>
Augenblicke, worin ſein Geiſt ſonſt auf irgend einer wahn-<lb/>
witzigen Idee zu reiten ſchien, waren noch die glücklichſten.<lb/>
Es war doch ein wenig Ruhe, und ſein wirrer Blick war<lb/>
nicht ſo entſetzlich, als die nach Rettung dürſtende Angſt,<lb/>
die ewige Qual der Unruhe! Oft ſchlug er ſich den Kopf<lb/>
an die Wand oder verurſachte ſich ſonſt einen heftigen<lb/>
phyſiſchen Schmerz.</p><lb/><p>Den 8. Morgens blieb er im Bette, Oberlin ging<lb/>
hinauf; er lag faſt nackt auf dem Bette und war heftig<lb/>
bewegt. Oberlin wollte ihn zudecken, er klagte aber ſehr,<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[237/0433]
am ganzen Leibe bebend und zitternd. Oberlin empfand
unendliches Mitleid, die Familie lag auf den Knieen und
betete für den Unglücklichen, die Mägde flohen und hielten
ihn für einen Beſeſſenen. Und wenn er ruhiger wurde,
war es wie der Jammer eines Kindes, er ſchluchzte, er
empfand ein tiefes, tiefes Mitleid mit ſich ſelbſt; das waren
auch ſeine ſeligſten Augenblicke. Oberlin ſprach von Gott.
Lenz wand ſich ruhig los und ſah ihn mit einem Ausdruck
unendlichen Leidens an und ſagte endlich: aber ich, wär'
ich allmächtig, ſehen Sie, wenn ich ſo wäre, ich könnte das
Leiden nicht ertragen, ich würde retten, retten; ich will ja
nichts als Ruhe, Ruhe, nur ein wenig Ruhe, um ſchlafen
zu können. Oberlin ſagte, dies ſei eine Profanation. Lenz
ſchüttelte troſtlos mit dem Kopfe. Die halben Verſuche
zum Entleiben, die er indeß fortwährend machte, waren
nicht ganz Ernſt. Es war weniger der Wunſch des Todes
— für ihn war ja keine Ruhe und Hoffnung im Tode, —
es war mehr in Augenblicken der fürchterlichſten Angſt oder
der dumpfen, ans Nichtſein gränzenden Ruhe ein Verſuch,
ſich zu ſich ſelbſt zu bringen durch phyſiſchen Schmerz.
Augenblicke, worin ſein Geiſt ſonſt auf irgend einer wahn-
witzigen Idee zu reiten ſchien, waren noch die glücklichſten.
Es war doch ein wenig Ruhe, und ſein wirrer Blick war
nicht ſo entſetzlich, als die nach Rettung dürſtende Angſt,
die ewige Qual der Unruhe! Oft ſchlug er ſich den Kopf
an die Wand oder verurſachte ſich ſonſt einen heftigen
phyſiſchen Schmerz.
Den 8. Morgens blieb er im Bette, Oberlin ging
hinauf; er lag faſt nackt auf dem Bette und war heftig
bewegt. Oberlin wollte ihn zudecken, er klagte aber ſehr,
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Büchner, Georg: Sämmtliche Werke und handschriftlicher Nachlaß. Frankfurt (Main), 1879, S. 237. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/buechner_werke_1879/433>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.