Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Büchner, Georg: Sämmtliche Werke und handschriftlicher Nachlaß. Frankfurt (Main), 1879.

Bild:
<< vorherige Seite

wie schwer Alles sei, so schwer, er glaube gar nicht, daß er
gehen könne, jetzt endlich empfinde er die ungeheure Schwere
der Luft. Oberlin sprach ihm Muth zu. Er blieb aber
in seiner frühern Lage und blieb den größten Theil des
Tages so, auch nahm er keine Nahrung zu sich. Gegen
Abend wurde Oberlin zu einem Kranken nach Bellesoße ge-
rufen. Es war gelindes Wetter und Mondschein. Auf
dem Rückwege begegnete ihm Lenz. Er schien ganz ver-
nünftig und sprach ruhig und freundlich mit Oberlin. Der
bat ihn nicht zurück zu gehen; er versprach's; im Weggehn,
wandte er sich plötzlich um und trat wieder ganz nahe zu
Oberlin und sagte rasch: Sehen Sie, Herr Pfarrer, wenn
ich das nur nicht mehr hören müßte, mir wäre geholfen. --
"Was denn, mein Lieber?" -- Hören Sie denn nichts,
hören Sie denn nicht die entsetzliche Stimme, die um den
ganzen Horizont schreit, und die man gewöhnlich die Stille
heißt. Seitdem ich in dem stillen Thale bin, hör ich's
immer, es läßt mich nicht schlafen, ja Herr Pfarrer, wenn
ich wieder einmal schlafen könnte! Er ging dann kopf-
schüttelnd weiter. Oberlin ging zurück nach Waldbach und
wollte ihm Jemand nachschicken, als er ihn die Stiege hinauf
in sein Zimmer gehen hörte. Einen Augenblick darauf
platzte etwas im Hofe mit so starkem Schalle, daß es
Oberlin unmöglich von dem Falle eines Menschen herzu-
kommen schien. Die Kindsmagd kam todtblaß und ganz
zitternd. .....



Er saß mit kalter Resignation im Wagen, wie sie das
Thal hervor nach Westen fuhren. Es war ihm einerlei,
wohin man ihn führte; mehrmals, wo der Wagen bei dem

wie ſchwer Alles ſei, ſo ſchwer, er glaube gar nicht, daß er
gehen könne, jetzt endlich empfinde er die ungeheure Schwere
der Luft. Oberlin ſprach ihm Muth zu. Er blieb aber
in ſeiner frühern Lage und blieb den größten Theil des
Tages ſo, auch nahm er keine Nahrung zu ſich. Gegen
Abend wurde Oberlin zu einem Kranken nach Belleſoße ge-
rufen. Es war gelindes Wetter und Mondſchein. Auf
dem Rückwege begegnete ihm Lenz. Er ſchien ganz ver-
nünftig und ſprach ruhig und freundlich mit Oberlin. Der
bat ihn nicht zurück zu gehen; er verſprach's; im Weggehn,
wandte er ſich plötzlich um und trat wieder ganz nahe zu
Oberlin und ſagte raſch: Sehen Sie, Herr Pfarrer, wenn
ich das nur nicht mehr hören müßte, mir wäre geholfen. —
"Was denn, mein Lieber?" — Hören Sie denn nichts,
hören Sie denn nicht die entſetzliche Stimme, die um den
ganzen Horizont ſchreit, und die man gewöhnlich die Stille
heißt. Seitdem ich in dem ſtillen Thale bin, hör ich's
immer, es läßt mich nicht ſchlafen, ja Herr Pfarrer, wenn
ich wieder einmal ſchlafen könnte! Er ging dann kopf-
ſchüttelnd weiter. Oberlin ging zurück nach Waldbach und
wollte ihm Jemand nachſchicken, als er ihn die Stiege hinauf
in ſein Zimmer gehen hörte. Einen Augenblick darauf
platzte etwas im Hofe mit ſo ſtarkem Schalle, daß es
Oberlin unmöglich von dem Falle eines Menſchen herzu-
kommen ſchien. Die Kindsmagd kam todtblaß und ganz
zitternd. .....



Er ſaß mit kalter Reſignation im Wagen, wie ſie das
Thal hervor nach Weſten fuhren. Es war ihm einerlei,
wohin man ihn führte; mehrmals, wo der Wagen bei dem

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0434" n="238"/>
wie &#x017F;chwer Alles &#x017F;ei, &#x017F;o &#x017F;chwer, er glaube gar nicht, daß er<lb/>
gehen könne, jetzt endlich empfinde er die ungeheure Schwere<lb/>
der Luft. Oberlin &#x017F;prach ihm Muth zu. Er blieb aber<lb/>
in &#x017F;einer frühern Lage und blieb den größten Theil des<lb/>
Tages &#x017F;o, auch nahm er keine Nahrung zu &#x017F;ich. Gegen<lb/>
Abend wurde Oberlin zu einem Kranken nach Belle&#x017F;oße ge-<lb/>
rufen. Es war gelindes Wetter und Mond&#x017F;chein. Auf<lb/>
dem Rückwege begegnete ihm Lenz. Er &#x017F;chien ganz ver-<lb/>
nünftig und &#x017F;prach ruhig und freundlich mit Oberlin. Der<lb/>
bat ihn nicht zurück zu gehen; er ver&#x017F;prach's; im Weggehn,<lb/>
wandte er &#x017F;ich plötzlich um und trat wieder ganz nahe zu<lb/>
Oberlin und &#x017F;agte ra&#x017F;ch: Sehen Sie, Herr Pfarrer, wenn<lb/>
ich das nur nicht mehr hören müßte, mir wäre geholfen. &#x2014;<lb/>
"Was denn, mein Lieber?" &#x2014; Hören Sie denn nichts,<lb/>
hören Sie denn nicht die ent&#x017F;etzliche Stimme, die um den<lb/>
ganzen Horizont &#x017F;chreit, und die man gewöhnlich die Stille<lb/>
heißt. Seitdem ich in dem &#x017F;tillen Thale bin, hör ich's<lb/>
immer, es läßt mich nicht &#x017F;chlafen, ja Herr Pfarrer, wenn<lb/>
ich wieder einmal &#x017F;chlafen könnte! Er ging dann kopf-<lb/>
&#x017F;chüttelnd weiter. Oberlin ging zurück nach Waldbach und<lb/>
wollte ihm Jemand nach&#x017F;chicken, als er ihn die Stiege hinauf<lb/>
in &#x017F;ein Zimmer gehen hörte. Einen Augenblick darauf<lb/>
platzte etwas im Hofe mit &#x017F;o &#x017F;tarkem Schalle, daß es<lb/>
Oberlin unmöglich von dem Falle eines Men&#x017F;chen herzu-<lb/>
kommen &#x017F;chien. Die Kindsmagd kam todtblaß und ganz<lb/>
zitternd. .....</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
          <p>Er &#x017F;aß mit kalter Re&#x017F;ignation im Wagen, wie &#x017F;ie das<lb/>
Thal hervor nach We&#x017F;ten fuhren. Es war ihm einerlei,<lb/>
wohin man ihn führte; mehrmals, wo der Wagen bei dem<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[238/0434] wie ſchwer Alles ſei, ſo ſchwer, er glaube gar nicht, daß er gehen könne, jetzt endlich empfinde er die ungeheure Schwere der Luft. Oberlin ſprach ihm Muth zu. Er blieb aber in ſeiner frühern Lage und blieb den größten Theil des Tages ſo, auch nahm er keine Nahrung zu ſich. Gegen Abend wurde Oberlin zu einem Kranken nach Belleſoße ge- rufen. Es war gelindes Wetter und Mondſchein. Auf dem Rückwege begegnete ihm Lenz. Er ſchien ganz ver- nünftig und ſprach ruhig und freundlich mit Oberlin. Der bat ihn nicht zurück zu gehen; er verſprach's; im Weggehn, wandte er ſich plötzlich um und trat wieder ganz nahe zu Oberlin und ſagte raſch: Sehen Sie, Herr Pfarrer, wenn ich das nur nicht mehr hören müßte, mir wäre geholfen. — "Was denn, mein Lieber?" — Hören Sie denn nichts, hören Sie denn nicht die entſetzliche Stimme, die um den ganzen Horizont ſchreit, und die man gewöhnlich die Stille heißt. Seitdem ich in dem ſtillen Thale bin, hör ich's immer, es läßt mich nicht ſchlafen, ja Herr Pfarrer, wenn ich wieder einmal ſchlafen könnte! Er ging dann kopf- ſchüttelnd weiter. Oberlin ging zurück nach Waldbach und wollte ihm Jemand nachſchicken, als er ihn die Stiege hinauf in ſein Zimmer gehen hörte. Einen Augenblick darauf platzte etwas im Hofe mit ſo ſtarkem Schalle, daß es Oberlin unmöglich von dem Falle eines Menſchen herzu- kommen ſchien. Die Kindsmagd kam todtblaß und ganz zitternd. ..... Er ſaß mit kalter Reſignation im Wagen, wie ſie das Thal hervor nach Weſten fuhren. Es war ihm einerlei, wohin man ihn führte; mehrmals, wo der Wagen bei dem

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/buechner_werke_1879
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/buechner_werke_1879/434
Zitationshilfe: Büchner, Georg: Sämmtliche Werke und handschriftlicher Nachlaß. Frankfurt (Main), 1879, S. 238. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/buechner_werke_1879/434>, abgerufen am 21.11.2024.