Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855.

Bild:
<< vorherige Seite

Affect in Einzelfiguren.
Ausdruck ohne weitere Motivirung darin anbringen kann. Die Sehn-
suchtshalbfigur bildet fortan eine stehende Gattung. (Ein früheres
vereinzeltes Beispiel bei gewissen Nachfolgern Lionardo's S. 870, d.)
Zunächst wird jetzt statt eines schlichten Christuskopfes durchgängig
der Dornengekrönte, das Eccehomo gemalt. (Pal. Corsini in Rom,a
von Guido, Guercino und C. Dolci; -- Pinac. in Bologna, dieb
vortreffliche Kreidezeichnung Guido's.) Das Motiv, wie man es gab,
stammt wesentlich von Coreggio, allein die Reproduction ist bisweilen
frei, erhaben und tiefsinnig zu nennen. Unter den Madonnen werden
die Bilder der Mater dolorosa zahlreicher. Die vielen Halbfiguren
von Sibyllen, deren trefflichste von Guercino, Domenichino
in und ausserhalb Italien zerstreut sind, haben meist den Ausdruck
des Emporsehnens (S. 931). Für Propheten und Heilige aller
Art gab es eigene Werkstätten; in sehr verschiedener Weise und doch
der Absicht nach eng verwandt arbeiteten besonders Spagnoletto
und Carlo Dolci dergleichen. Den erstern möge man in den Ga-
lerien von Parma und Neapel verfolgen, den letztern im Pal. Pitti,c
in den Uffizien, und besonders im Pal. Corsini zu Florenz, wo mand
auch seinen Nachahmer Orazio Marinari kennen lernt. Über Dol-
ci's Süsslichkeit, seiner conventionellen Andacht mit Kopfhängen und
Augenverdrehen, seinen schwarzen Schatten und geleckten Licht-
partien, der übereleganten Haltung der Hände etc. darf man doch
einen bedeutenden angeborenen Schönheitssinn nicht vergessen, auch
den Fleiss der Ausführung nicht. -- Von den Neapolitanern hat An-
drea Vaccaro
(Mus. von Neapel) in solchen Bildern am meistene
Ernst und Würde, wie er sich denn selbst in seinem Kindermord
(ebenda) zu mässigen weiss. (Sein bestes Bild sonst der Gekreuzigtef
mit Angehörigen, in Trinita de' Pellegrini.)

Ob heilige oder profane Personen dargestellt werden, ändert im
Ganzen nicht viel. Die Lucretien, Cleopatren, auch die Judith wo sie
ekstatisch aufwärts schaut (Guercino, im Pal. Spada zu Rom), derg
siegreiche David in ähnlichem Moment (Gennari, Pal. Pitti), jah
selbst der sich erstechende Cato (Guercino, Pal. Brignole in Genua),i
u. dgl. m. zeigen nur andere Nuancen desselben Ausdruckes.

Auch ganze oder fast ganze Figuren in Einzeldarstellung wer-
den sehr häufig, eben diesem Ausdruck zu Liebe. An ihrer Spitze

Affect in Einzelfiguren.
Ausdruck ohne weitere Motivirung darin anbringen kann. Die Sehn-
suchtshalbfigur bildet fortan eine stehende Gattung. (Ein früheres
vereinzeltes Beispiel bei gewissen Nachfolgern Lionardo’s S. 870, d.)
Zunächst wird jetzt statt eines schlichten Christuskopfes durchgängig
der Dornengekrönte, das Eccehomo gemalt. (Pal. Corsini in Rom,a
von Guido, Guercino und C. Dolci; — Pinac. in Bologna, dieb
vortreffliche Kreidezeichnung Guido’s.) Das Motiv, wie man es gab,
stammt wesentlich von Coreggio, allein die Reproduction ist bisweilen
frei, erhaben und tiefsinnig zu nennen. Unter den Madonnen werden
die Bilder der Mater dolorosa zahlreicher. Die vielen Halbfiguren
von Sibyllen, deren trefflichste von Guercino, Domenichino
in und ausserhalb Italien zerstreut sind, haben meist den Ausdruck
des Emporsehnens (S. 931). Für Propheten und Heilige aller
Art gab es eigene Werkstätten; in sehr verschiedener Weise und doch
der Absicht nach eng verwandt arbeiteten besonders Spagnoletto
und Carlo Dolci dergleichen. Den erstern möge man in den Ga-
lerien von Parma und Neapel verfolgen, den letztern im Pal. Pitti,c
in den Uffizien, und besonders im Pal. Corsini zu Florenz, wo mand
auch seinen Nachahmer Orazio Marinari kennen lernt. Über Dol-
ci’s Süsslichkeit, seiner conventionellen Andacht mit Kopfhängen und
Augenverdrehen, seinen schwarzen Schatten und geleckten Licht-
partien, der übereleganten Haltung der Hände etc. darf man doch
einen bedeutenden angeborenen Schönheitssinn nicht vergessen, auch
den Fleiss der Ausführung nicht. — Von den Neapolitanern hat An-
drea Vaccaro
(Mus. von Neapel) in solchen Bildern am meistene
Ernst und Würde, wie er sich denn selbst in seinem Kindermord
(ebenda) zu mässigen weiss. (Sein bestes Bild sonst der Gekreuzigtef
mit Angehörigen, in Trinità de’ Pellegrini.)

Ob heilige oder profane Personen dargestellt werden, ändert im
Ganzen nicht viel. Die Lucretien, Cleopatren, auch die Judith wo sie
ekstatisch aufwärts schaut (Guercino, im Pal. Spada zu Rom), derg
siegreiche David in ähnlichem Moment (Gennari, Pal. Pitti), jah
selbst der sich erstechende Cato (Guercino, Pal. Brignole in Genua),i
u. dgl. m. zeigen nur andere Nuancen desselben Ausdruckes.

Auch ganze oder fast ganze Figuren in Einzeldarstellung wer-
den sehr häufig, eben diesem Ausdruck zu Liebe. An ihrer Spitze

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f1057" n="1035"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Affect in Einzelfiguren.</hi></fw><lb/>
Ausdruck ohne weitere Motivirung darin anbringen kann. Die Sehn-<lb/>
suchtshalbfigur bildet fortan eine stehende Gattung. (Ein früheres<lb/>
vereinzeltes Beispiel bei gewissen Nachfolgern Lionardo&#x2019;s S. 870, d.)<lb/>
Zunächst wird jetzt statt eines schlichten Christuskopfes durchgängig<lb/>
der Dornengekrönte, das <hi rendition="#g">Eccehomo</hi> gemalt. (Pal. Corsini in Rom,<note place="right">a</note><lb/>
von <hi rendition="#g">Guido, Guercino</hi> und C. <hi rendition="#g">Dolci</hi>; &#x2014; Pinac. in Bologna, die<note place="right">b</note><lb/>
vortreffliche Kreidezeichnung <hi rendition="#g">Guido&#x2019;s</hi>.) Das Motiv, wie man es gab,<lb/>
stammt wesentlich von Coreggio, allein die Reproduction ist bisweilen<lb/>
frei, erhaben und tiefsinnig zu nennen. Unter den Madonnen werden<lb/>
die Bilder der <hi rendition="#g">Mater dolorosa</hi> zahlreicher. Die vielen Halbfiguren<lb/>
von <hi rendition="#g">Sibyllen</hi>, deren trefflichste von <hi rendition="#g">Guercino, Domenichino</hi><lb/>
in und ausserhalb Italien zerstreut sind, haben meist den Ausdruck<lb/>
des Emporsehnens (S. 931). Für <hi rendition="#g">Propheten</hi> und <hi rendition="#g">Heilige</hi> aller<lb/>
Art gab es eigene Werkstätten; in sehr verschiedener Weise und doch<lb/>
der Absicht nach eng verwandt arbeiteten besonders <hi rendition="#g">Spagnoletto</hi><lb/>
und <hi rendition="#g">Carlo Dolci</hi> dergleichen. Den erstern möge man in den Ga-<lb/>
lerien von Parma und Neapel verfolgen, den letztern im Pal. Pitti,<note place="right">c</note><lb/>
in den Uffizien, und besonders im Pal. Corsini zu Florenz, wo man<note place="right">d</note><lb/>
auch seinen Nachahmer <hi rendition="#g">Orazio Marinari</hi> kennen lernt. Über Dol-<lb/>
ci&#x2019;s Süsslichkeit, seiner conventionellen Andacht mit Kopfhängen und<lb/>
Augenverdrehen, seinen schwarzen <choice><sic>Schattten</sic><corr>Schatten</corr></choice> und geleckten Licht-<lb/>
partien, der übereleganten Haltung der Hände etc. darf man doch<lb/>
einen bedeutenden angeborenen Schönheitssinn nicht vergessen, auch<lb/>
den Fleiss der Ausführung nicht. &#x2014; Von den Neapolitanern hat <hi rendition="#g">An-<lb/>
drea Vaccaro</hi> (Mus. von Neapel) in solchen Bildern am meisten<note place="right">e</note><lb/>
Ernst und Würde, wie er sich denn selbst in seinem Kindermord<lb/>
(ebenda) zu mässigen weiss. (Sein bestes Bild sonst der Gekreuzigte<note place="right">f</note><lb/>
mit Angehörigen, in Trinità de&#x2019; Pellegrini.)</p><lb/>
        <p>Ob heilige oder profane Personen dargestellt werden, ändert im<lb/>
Ganzen nicht viel. Die Lucretien, Cleopatren, auch die Judith wo sie<lb/>
ekstatisch aufwärts schaut (<hi rendition="#g">Guercino</hi>, im Pal. Spada zu Rom), der<note place="right">g</note><lb/>
siegreiche David in ähnlichem Moment (<hi rendition="#g">Gennari</hi>, Pal. Pitti), ja<note place="right">h</note><lb/>
selbst der sich erstechende Cato (<hi rendition="#g">Guercino</hi>, Pal. Brignole in Genua),<note place="right">i</note><lb/>
u. dgl. m. zeigen nur andere Nuancen desselben Ausdruckes.</p><lb/>
        <p>Auch <hi rendition="#g">ganze</hi> oder fast ganze Figuren in Einzeldarstellung wer-<lb/>
den sehr häufig, eben diesem Ausdruck zu Liebe. An ihrer Spitze<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[1035/1057] Affect in Einzelfiguren. Ausdruck ohne weitere Motivirung darin anbringen kann. Die Sehn- suchtshalbfigur bildet fortan eine stehende Gattung. (Ein früheres vereinzeltes Beispiel bei gewissen Nachfolgern Lionardo’s S. 870, d.) Zunächst wird jetzt statt eines schlichten Christuskopfes durchgängig der Dornengekrönte, das Eccehomo gemalt. (Pal. Corsini in Rom, von Guido, Guercino und C. Dolci; — Pinac. in Bologna, die vortreffliche Kreidezeichnung Guido’s.) Das Motiv, wie man es gab, stammt wesentlich von Coreggio, allein die Reproduction ist bisweilen frei, erhaben und tiefsinnig zu nennen. Unter den Madonnen werden die Bilder der Mater dolorosa zahlreicher. Die vielen Halbfiguren von Sibyllen, deren trefflichste von Guercino, Domenichino in und ausserhalb Italien zerstreut sind, haben meist den Ausdruck des Emporsehnens (S. 931). Für Propheten und Heilige aller Art gab es eigene Werkstätten; in sehr verschiedener Weise und doch der Absicht nach eng verwandt arbeiteten besonders Spagnoletto und Carlo Dolci dergleichen. Den erstern möge man in den Ga- lerien von Parma und Neapel verfolgen, den letztern im Pal. Pitti, in den Uffizien, und besonders im Pal. Corsini zu Florenz, wo man auch seinen Nachahmer Orazio Marinari kennen lernt. Über Dol- ci’s Süsslichkeit, seiner conventionellen Andacht mit Kopfhängen und Augenverdrehen, seinen schwarzen Schatten und geleckten Licht- partien, der übereleganten Haltung der Hände etc. darf man doch einen bedeutenden angeborenen Schönheitssinn nicht vergessen, auch den Fleiss der Ausführung nicht. — Von den Neapolitanern hat An- drea Vaccaro (Mus. von Neapel) in solchen Bildern am meisten Ernst und Würde, wie er sich denn selbst in seinem Kindermord (ebenda) zu mässigen weiss. (Sein bestes Bild sonst der Gekreuzigte mit Angehörigen, in Trinità de’ Pellegrini.) a b c d e f Ob heilige oder profane Personen dargestellt werden, ändert im Ganzen nicht viel. Die Lucretien, Cleopatren, auch die Judith wo sie ekstatisch aufwärts schaut (Guercino, im Pal. Spada zu Rom), der siegreiche David in ähnlichem Moment (Gennari, Pal. Pitti), ja selbst der sich erstechende Cato (Guercino, Pal. Brignole in Genua), u. dgl. m. zeigen nur andere Nuancen desselben Ausdruckes. g h i Auch ganze oder fast ganze Figuren in Einzeldarstellung wer- den sehr häufig, eben diesem Ausdruck zu Liebe. An ihrer Spitze

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_cicerone_1855
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_cicerone_1855/1057
Zitationshilfe: Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855, S. 1035. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_cicerone_1855/1057>, abgerufen am 05.12.2024.