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Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855.

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Decorativer Charakter.
damalige Venedig an einzelnen überaus netten decorativen Effecten
zu Nutz und Frommen des jetzigen Platz sparenden Privatbaues. Die
Composition im höhern Sinn, nämlich nach Verhältnissen, ist an Kir-
chen und Palästen meist null, aber das Arrangement geschickt und die
Phantasie reich und durch kein Bedenken gehemmt. Das Äussere
wird an Kirchen und Palästen mit zwei, drei Ordnungen von Pila-
stern bekleidet, ohne dass man sich auch nur die Mühe nähme, die
obern Ordnungen durch grössere Leichtigkeit zu charakterisiren, oder
einen Gegensatz in den Flächen auszudrücken (S. Maria de' miracoli,
Seitenfronte der Scuola di S. Marco etc.). An den Hauptfassaden sind
die Pilaster wohl mit Arabesken oder mit Nischen ausgefüllt, cannelirt,
in der Mitte durch Scheiben von rothem oder grünem Marmor unter-
brochen u. dgl.; überall sonst haben sie ihr eigenes vertieftes Rahmen-
profil, welches ihnen die Bedeutung einer Stütze, eines Repräsentan-
ten der Säule benimmt und sie selber zum blossen Rand eines Rahmens
um das betreffende Mauerfeld macht. Von einem nothwendigen Grad-
verhältniss zwischen der Pilaster- und der Friesdecoration trifft man
kaum eine Ahnung. Für den obern Abschluss der Kirchenfassaden
erlaubte man sich fortwährend die fröhliche runde Form in verschie-
denen Brechungen; seit dem Bau von S. Marco war die venezianische
Baukunst daran gewöhnt und hatte auch in der gothischen Zeit da-
mit barock genug zu schalten gewusst. -- Auch an den Palastfassaden
behielt man die bisherige Anordnung (Seite 155) bei, nur im neuen
Gewande. Die schöne Wirkung der offenen Loggien in der Mitte der
Hauptstockwerke ist nicht das Verdienst des neuen Styles, sondern
das einer alten Sitte. Die zwischen den Fenstern, Thüren, Gesimsen
und Pilastern übrigbleibenden Flächen wurden mit bunten Steinschei-
ben in symmetrischer Zusammenstellung, an den Kirchen auch wohl
mit Nischen, Sculpturen u. s. w. ausgeschmückt.

Im Innern sind die Paläste grössern Theils verbaut; was von
Treppen und Sälen einigen Eindruck macht, ist durchgängig spätern
Ursprunges. Das Erdgeschoss ist weder entschieden als blosser Sockel-
bau, noch als mächtiges Grundstockwerk behandelt, und diese Halb-
heit raubt natürlich der untern Halle jede höhere architektonische
Bedeutung, wenn sie auch -- in Verfall und Verkommenheit -- oft

Decorativer Charakter.
damalige Venedig an einzelnen überaus netten decorativen Effecten
zu Nutz und Frommen des jetzigen Platz sparenden Privatbaues. Die
Composition im höhern Sinn, nämlich nach Verhältnissen, ist an Kir-
chen und Palästen meist null, aber das Arrangement geschickt und die
Phantasie reich und durch kein Bedenken gehemmt. Das Äussere
wird an Kirchen und Palästen mit zwei, drei Ordnungen von Pila-
stern bekleidet, ohne dass man sich auch nur die Mühe nähme, die
obern Ordnungen durch grössere Leichtigkeit zu charakterisiren, oder
einen Gegensatz in den Flächen auszudrücken (S. Maria de’ miracoli,
Seitenfronte der Scuola di S. Marco etc.). An den Hauptfassaden sind
die Pilaster wohl mit Arabesken oder mit Nischen ausgefüllt, cannelirt,
in der Mitte durch Scheiben von rothem oder grünem Marmor unter-
brochen u. dgl.; überall sonst haben sie ihr eigenes vertieftes Rahmen-
profil, welches ihnen die Bedeutung einer Stütze, eines Repräsentan-
ten der Säule benimmt und sie selber zum blossen Rand eines Rahmens
um das betreffende Mauerfeld macht. Von einem nothwendigen Grad-
verhältniss zwischen der Pilaster- und der Friesdecoration trifft man
kaum eine Ahnung. Für den obern Abschluss der Kirchenfassaden
erlaubte man sich fortwährend die fröhliche runde Form in verschie-
denen Brechungen; seit dem Bau von S. Marco war die venezianische
Baukunst daran gewöhnt und hatte auch in der gothischen Zeit da-
mit barock genug zu schalten gewusst. — Auch an den Palastfassaden
behielt man die bisherige Anordnung (Seite 155) bei, nur im neuen
Gewande. Die schöne Wirkung der offenen Loggien in der Mitte der
Hauptstockwerke ist nicht das Verdienst des neuen Styles, sondern
das einer alten Sitte. Die zwischen den Fenstern, Thüren, Gesimsen
und Pilastern übrigbleibenden Flächen wurden mit bunten Steinschei-
ben in symmetrischer Zusammenstellung, an den Kirchen auch wohl
mit Nischen, Sculpturen u. s. w. ausgeschmückt.

Im Innern sind die Paläste grössern Theils verbaut; was von
Treppen und Sälen einigen Eindruck macht, ist durchgängig spätern
Ursprunges. Das Erdgeschoss ist weder entschieden als blosser Sockel-
bau, noch als mächtiges Grundstockwerk behandelt, und diese Halb-
heit raubt natürlich der untern Halle jede höhere architektonische
Bedeutung, wenn sie auch — in Verfall und Verkommenheit — oft

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[215/0237] Decorativer Charakter. damalige Venedig an einzelnen überaus netten decorativen Effecten zu Nutz und Frommen des jetzigen Platz sparenden Privatbaues. Die Composition im höhern Sinn, nämlich nach Verhältnissen, ist an Kir- chen und Palästen meist null, aber das Arrangement geschickt und die Phantasie reich und durch kein Bedenken gehemmt. Das Äussere wird an Kirchen und Palästen mit zwei, drei Ordnungen von Pila- stern bekleidet, ohne dass man sich auch nur die Mühe nähme, die obern Ordnungen durch grössere Leichtigkeit zu charakterisiren, oder einen Gegensatz in den Flächen auszudrücken (S. Maria de’ miracoli, Seitenfronte der Scuola di S. Marco etc.). An den Hauptfassaden sind die Pilaster wohl mit Arabesken oder mit Nischen ausgefüllt, cannelirt, in der Mitte durch Scheiben von rothem oder grünem Marmor unter- brochen u. dgl.; überall sonst haben sie ihr eigenes vertieftes Rahmen- profil, welches ihnen die Bedeutung einer Stütze, eines Repräsentan- ten der Säule benimmt und sie selber zum blossen Rand eines Rahmens um das betreffende Mauerfeld macht. Von einem nothwendigen Grad- verhältniss zwischen der Pilaster- und der Friesdecoration trifft man kaum eine Ahnung. Für den obern Abschluss der Kirchenfassaden erlaubte man sich fortwährend die fröhliche runde Form in verschie- denen Brechungen; seit dem Bau von S. Marco war die venezianische Baukunst daran gewöhnt und hatte auch in der gothischen Zeit da- mit barock genug zu schalten gewusst. — Auch an den Palastfassaden behielt man die bisherige Anordnung (Seite 155) bei, nur im neuen Gewande. Die schöne Wirkung der offenen Loggien in der Mitte der Hauptstockwerke ist nicht das Verdienst des neuen Styles, sondern das einer alten Sitte. Die zwischen den Fenstern, Thüren, Gesimsen und Pilastern übrigbleibenden Flächen wurden mit bunten Steinschei- ben in symmetrischer Zusammenstellung, an den Kirchen auch wohl mit Nischen, Sculpturen u. s. w. ausgeschmückt. Im Innern sind die Paläste grössern Theils verbaut; was von Treppen und Sälen einigen Eindruck macht, ist durchgängig spätern Ursprunges. Das Erdgeschoss ist weder entschieden als blosser Sockel- bau, noch als mächtiges Grundstockwerk behandelt, und diese Halb- heit raubt natürlich der untern Halle jede höhere architektonische Bedeutung, wenn sie auch — in Verfall und Verkommenheit — oft

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Zitationshilfe: Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855, S. 215. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_cicerone_1855/237>, abgerufen am 04.12.2024.