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Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855.

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Zeus.
Gesammtbilde allerdings, dessen Anblick die Griechen zur Bedingung
jedes glücklichen Lebens machten, von dem olympischen Zeus des
Phidias, sind uns nur kümmerliche Reminiscenzen erhalten. Eine solche
erkennt man z. B. in dem colossalen Jupiter aus dem Hause Verospi
(Vatican, am Ende der Büstenzimmer), welcher mit nacktem Ober-a
leib, den Donnerkeil in der Rechten (statt der Siegesgöttin bei Phi-
dias) und den Scepter in der Linken thront. Von dem Haupte des
Zeus aber, wie es der Meister gebildet, ist glücklicher Weise ein
ziemlich nahes Abbild auf unsere Zeit gerettet in der berühmten
Büste von Otricoli (Vatican, Sala rotonda). Hier erkennt manb
jenen Ausdruck wieder: "friedlich und ganz mild", das erhabene Haupt
in Gnade und Erhörung geneigt mit leisem Lächeln. Von den Locken
war genug vorhanden, um das Fehlende (auch das ganze Hinter-
haupt) trefflich zu restauriren. Die Züge sind in der That keines
Menschen Züge; vielmehr erscheinen diejenigen Elemente des Ant-
litzes, welche zu bestimmten Zwecken des Ausdruckes dienen, nach
höhern Gesetzen verändert und hervorgehoben. So dient die Ver-
dichtung in der Mitte des Stirnknochens (oder der Stirnhaut) dazu,
das gewaltigste Wollen und zugleich die höchste Weisheit anzudeuten.
Die Augen, von ganz wunderbarem Bau, liegen tief und treten doch
hervor; die Nase (etwas restaurirt) bildet mit der Stirn nicht einen
einwärts, sondern einen leise auswärts tretenden Winkel, worin die Lei-
denschaftslosigkeit ausgedrückt liegt. (Dieses anscheinende Paradoxon
kann hier nicht entwickelt werden; ich verweise nur auf den griechi-
schen Kunstgebrauch des Gegentheils, der Stülpnase, z. B. bei den
Barbaren und den Satyrn, wozu beim Silen noch die aufwärts her-
vortretende Stirn kömmt.) Die Lippen endlich (leider auch nicht ganz
alt) vereinigen Süssigkeit und Majestät in einem Grade, wie kein ir-
discher Mund. -- An diesem Haupt sind nu n Locken und Bart von
höherer Bedeutung als an irgend einem andern. In ihnen wallt und
strömt gleichsam eine überschüssige göttliche Kraft aufwärts und ab-
wärts. Die Stirnlocken namentlich sind hei mehrern göttlichen Ge-
stalten wie ein Sinnbild geistiger Flammen. Dieser Zeus wäre mit
glatten oder kurzen Haaren nicht mehr Zeus, wie Apoll ohne seinen
Krobylos (Lockenbund über der Stirn) nicht mehr Apoll wäre.

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Zeus.
Gesammtbilde allerdings, dessen Anblick die Griechen zur Bedingung
jedes glücklichen Lebens machten, von dem olympischen Zeus des
Phidias, sind uns nur kümmerliche Reminiscenzen erhalten. Eine solche
erkennt man z. B. in dem colossalen Jupiter aus dem Hause Verospi
(Vatican, am Ende der Büstenzimmer), welcher mit nacktem Ober-a
leib, den Donnerkeil in der Rechten (statt der Siegesgöttin bei Phi-
dias) und den Scepter in der Linken thront. Von dem Haupte des
Zeus aber, wie es der Meister gebildet, ist glücklicher Weise ein
ziemlich nahes Abbild auf unsere Zeit gerettet in der berühmten
Büste von Otricoli (Vatican, Sala rotonda). Hier erkennt manb
jenen Ausdruck wieder: „friedlich und ganz mild“, das erhabene Haupt
in Gnade und Erhörung geneigt mit leisem Lächeln. Von den Locken
war genug vorhanden, um das Fehlende (auch das ganze Hinter-
haupt) trefflich zu restauriren. Die Züge sind in der That keines
Menschen Züge; vielmehr erscheinen diejenigen Elemente des Ant-
litzes, welche zu bestimmten Zwecken des Ausdruckes dienen, nach
höhern Gesetzen verändert und hervorgehoben. So dient die Ver-
dichtung in der Mitte des Stirnknochens (oder der Stirnhaut) dazu,
das gewaltigste Wollen und zugleich die höchste Weisheit anzudeuten.
Die Augen, von ganz wunderbarem Bau, liegen tief und treten doch
hervor; die Nase (etwas restaurirt) bildet mit der Stirn nicht einen
einwärts, sondern einen leise auswärts tretenden Winkel, worin die Lei-
denschaftslosigkeit ausgedrückt liegt. (Dieses anscheinende Paradoxon
kann hier nicht entwickelt werden; ich verweise nur auf den griechi-
schen Kunstgebrauch des Gegentheils, der Stülpnase, z. B. bei den
Barbaren und den Satyrn, wozu beim Silen noch die aufwärts her-
vortretende Stirn kömmt.) Die Lippen endlich (leider auch nicht ganz
alt) vereinigen Süssigkeit und Majestät in einem Grade, wie kein ir-
discher Mund. — An diesem Haupt sind nu n Locken und Bart von
höherer Bedeutung als an irgend einem andern. In ihnen wallt und
strömt gleichsam eine überschüssige göttliche Kraft aufwärts und ab-
wärts. Die Stirnlocken namentlich sind hei mehrern göttlichen Ge-
stalten wie ein Sinnbild geistiger Flammen. Dieser Zeus wäre mit
glatten oder kurzen Haaren nicht mehr Zeus, wie Apoll ohne seinen
Krobylos (Lockenbund über der Stirn) nicht mehr Apoll wäre.

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[419/0441] Zeus. Gesammtbilde allerdings, dessen Anblick die Griechen zur Bedingung jedes glücklichen Lebens machten, von dem olympischen Zeus des Phidias, sind uns nur kümmerliche Reminiscenzen erhalten. Eine solche erkennt man z. B. in dem colossalen Jupiter aus dem Hause Verospi (Vatican, am Ende der Büstenzimmer), welcher mit nacktem Ober- leib, den Donnerkeil in der Rechten (statt der Siegesgöttin bei Phi- dias) und den Scepter in der Linken thront. Von dem Haupte des Zeus aber, wie es der Meister gebildet, ist glücklicher Weise ein ziemlich nahes Abbild auf unsere Zeit gerettet in der berühmten Büste von Otricoli (Vatican, Sala rotonda). Hier erkennt man jenen Ausdruck wieder: „friedlich und ganz mild“, das erhabene Haupt in Gnade und Erhörung geneigt mit leisem Lächeln. Von den Locken war genug vorhanden, um das Fehlende (auch das ganze Hinter- haupt) trefflich zu restauriren. Die Züge sind in der That keines Menschen Züge; vielmehr erscheinen diejenigen Elemente des Ant- litzes, welche zu bestimmten Zwecken des Ausdruckes dienen, nach höhern Gesetzen verändert und hervorgehoben. So dient die Ver- dichtung in der Mitte des Stirnknochens (oder der Stirnhaut) dazu, das gewaltigste Wollen und zugleich die höchste Weisheit anzudeuten. Die Augen, von ganz wunderbarem Bau, liegen tief und treten doch hervor; die Nase (etwas restaurirt) bildet mit der Stirn nicht einen einwärts, sondern einen leise auswärts tretenden Winkel, worin die Lei- denschaftslosigkeit ausgedrückt liegt. (Dieses anscheinende Paradoxon kann hier nicht entwickelt werden; ich verweise nur auf den griechi- schen Kunstgebrauch des Gegentheils, der Stülpnase, z. B. bei den Barbaren und den Satyrn, wozu beim Silen noch die aufwärts her- vortretende Stirn kömmt.) Die Lippen endlich (leider auch nicht ganz alt) vereinigen Süssigkeit und Majestät in einem Grade, wie kein ir- discher Mund. — An diesem Haupt sind nu n Locken und Bart von höherer Bedeutung als an irgend einem andern. In ihnen wallt und strömt gleichsam eine überschüssige göttliche Kraft aufwärts und ab- wärts. Die Stirnlocken namentlich sind hei mehrern göttlichen Ge- stalten wie ein Sinnbild geistiger Flammen. Dieser Zeus wäre mit glatten oder kurzen Haaren nicht mehr Zeus, wie Apoll ohne seinen Krobylos (Lockenbund über der Stirn) nicht mehr Apoll wäre. a b 27*

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Zitationshilfe: Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855, S. 419. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_cicerone_1855/441>, abgerufen am 16.07.2024.