Als historischer Erzähler hat Andrea gleichwohl Unvergängliches ageleistet. Die Fresken in der Vorhalle der Annunziata, be- gonnen 1510, zeigen zwar zum Theil dieselbe fast zu strenge archi- tektonische Anordnung; in den drei ersten Bildern links, aus der Le- gende des S. Filippo Benizzi, bildet sich die Gruppe coulissenartig ansteigend zur Pyramide; das eigentlich Dramatische, Bedeutend-Mo- mentane kömmt nirgends besonders zu seinem Rechte; in der Anbe- tung der Könige (letztes Bild rechts) wird man die Hauptgruppe sogar befangen finden. Allein es ist durch diese Malereien die won- nigste Fülle neuer Lebensmotive verbreitet; man geniesst mit dem Maler das hohe Glück, schlichte Lebensäusserungen in der reinsten und vollkommensten Form, in edler Abwägung gegen einander, in weiter Räumlichkeit schön vertheilt anschauen zu können. Bei der Betrachtung des Einzelnen prägen sich zumal eine Anzahl von Ge- stalten des 1., 2. und 5. Bildes links unauslöschlich ein; trotz aller Verwitterung wird man im letztgenannten (Bekleidung des Aussätzigen) in der Gestalt des S. Filippo eine der höchsten Schöpfungen der gol- denen Zeit erkennen. Die Geburt Mariä (vorletztes Bild rechts) ist die letzte, in lauter Schönheit aufgehende Redaction dieses Gegenstan- des; noch Domenico Ghirlandajo erscheint neben diesem wunderbaren Reichthum einseitig und herb. Ausser den Bildern der ältern Meister (Alessio Baldovinetti's Geburt Christi, letztes Bild links, und Cosimo Rosselli's Einkleidung des S. Filippo, vorletztes links) haben die Schüler Andrea's hier noch ihr Bestes geleistet. Am näch- sten steht ihm Franciabigio in der (durch den bekannten Ham- merschlag verstümmelten) Vermählung Mariä, einem Werke des em- sigen und begeisterten Wetteifers. In Pontormo's Heimsuchung, welche bei Weitem sein Hauptwerk ist, steigert sich die Auffassung Andrea's und Bartolommeo's mit äusserstem Kraftaufwand zu einem neuen Ganzen. Nur Mariä Himmelfahrt, von Rosso, zeigt den Styl Andrea's allerdings im Zustande der Verwilderung.
b
Ausserdem hat Andrea das einzige Abendmahl geschaffen, wel- ches demjenigen Lionardo's wenigstens sich von Ferne nähern darf: das grosse, theilweise vortrefflich erhaltene, theilweise sehr entstellte Frescobild im Refectorium des ehemaligen Klosters S. Salvi bei Flo- renz. (Zehn Minuten vor Porta della Croce, von der Strasse links
Malerei des XVI. Jahrhunderts. Andrea del Sarto.
Als historischer Erzähler hat Andrea gleichwohl Unvergängliches ageleistet. Die Fresken in der Vorhalle der Annunziata, be- gonnen 1510, zeigen zwar zum Theil dieselbe fast zu strenge archi- tektonische Anordnung; in den drei ersten Bildern links, aus der Le- gende des S. Filippo Benizzi, bildet sich die Gruppe coulissenartig ansteigend zur Pyramide; das eigentlich Dramatische, Bedeutend-Mo- mentane kömmt nirgends besonders zu seinem Rechte; in der Anbe- tung der Könige (letztes Bild rechts) wird man die Hauptgruppe sogar befangen finden. Allein es ist durch diese Malereien die won- nigste Fülle neuer Lebensmotive verbreitet; man geniesst mit dem Maler das hohe Glück, schlichte Lebensäusserungen in der reinsten und vollkommensten Form, in edler Abwägung gegen einander, in weiter Räumlichkeit schön vertheilt anschauen zu können. Bei der Betrachtung des Einzelnen prägen sich zumal eine Anzahl von Ge- stalten des 1., 2. und 5. Bildes links unauslöschlich ein; trotz aller Verwitterung wird man im letztgenannten (Bekleidung des Aussätzigen) in der Gestalt des S. Filippo eine der höchsten Schöpfungen der gol- denen Zeit erkennen. Die Geburt Mariä (vorletztes Bild rechts) ist die letzte, in lauter Schönheit aufgehende Redaction dieses Gegenstan- des; noch Domenico Ghirlandajo erscheint neben diesem wunderbaren Reichthum einseitig und herb. Ausser den Bildern der ältern Meister (Alessio Baldovinetti’s Geburt Christi, letztes Bild links, und Cosimo Rosselli’s Einkleidung des S. Filippo, vorletztes links) haben die Schüler Andrea’s hier noch ihr Bestes geleistet. Am näch- sten steht ihm Franciabigio in der (durch den bekannten Ham- merschlag verstümmelten) Vermählung Mariä, einem Werke des em- sigen und begeisterten Wetteifers. In Pontormo’s Heimsuchung, welche bei Weitem sein Hauptwerk ist, steigert sich die Auffassung Andrea’s und Bartolommeo’s mit äusserstem Kraftaufwand zu einem neuen Ganzen. Nur Mariä Himmelfahrt, von Rosso, zeigt den Styl Andrea’s allerdings im Zustande der Verwilderung.
b
Ausserdem hat Andrea das einzige Abendmahl geschaffen, wel- ches demjenigen Lionardo’s wenigstens sich von Ferne nähern darf: das grosse, theilweise vortrefflich erhaltene, theilweise sehr entstellte Frescobild im Refectorium des ehemaligen Klosters S. Salvi bei Flo- renz. (Zehn Minuten vor Porta della Croce, von der Strasse links
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0908"n="886"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#b">Malerei des XVI. Jahrhunderts. Andrea del Sarto.</hi></fw><lb/><p>Als historischer Erzähler hat Andrea gleichwohl Unvergängliches<lb/><noteplace="left">a</note>geleistet. Die Fresken in der <hirendition="#g">Vorhalle der Annunziata</hi>, be-<lb/>
gonnen 1510, zeigen zwar zum Theil dieselbe fast zu strenge archi-<lb/>
tektonische Anordnung; in den drei ersten Bildern links, aus der Le-<lb/>
gende des S. Filippo Benizzi, bildet sich die Gruppe coulissenartig<lb/>
ansteigend zur Pyramide; das eigentlich Dramatische, Bedeutend-Mo-<lb/>
mentane kömmt nirgends besonders zu seinem Rechte; in der Anbe-<lb/>
tung der Könige (letztes Bild rechts) wird man die Hauptgruppe<lb/>
sogar befangen finden. Allein es ist durch diese Malereien die won-<lb/>
nigste Fülle neuer Lebensmotive verbreitet; man geniesst mit dem<lb/>
Maler das hohe Glück, schlichte Lebensäusserungen in der reinsten<lb/>
und vollkommensten Form, in edler Abwägung gegen einander, in<lb/>
weiter Räumlichkeit schön vertheilt anschauen zu können. Bei der<lb/>
Betrachtung des Einzelnen prägen sich zumal eine Anzahl von Ge-<lb/>
stalten des 1., 2. und 5. Bildes links unauslöschlich ein; trotz aller<lb/>
Verwitterung wird man im letztgenannten (Bekleidung des Aussätzigen)<lb/>
in der Gestalt des S. Filippo eine der höchsten Schöpfungen der gol-<lb/>
denen Zeit erkennen. Die Geburt Mariä (vorletztes Bild rechts) ist<lb/>
die letzte, in lauter Schönheit aufgehende Redaction dieses Gegenstan-<lb/>
des; noch Domenico Ghirlandajo erscheint neben diesem wunderbaren<lb/>
Reichthum einseitig und herb. Ausser den Bildern der ältern Meister<lb/>
(<hirendition="#g">Alessio Baldovinetti’s</hi> Geburt Christi, letztes Bild links, und<lb/><hirendition="#g">Cosimo Rosselli’s</hi> Einkleidung des S. Filippo, vorletztes links)<lb/>
haben die Schüler Andrea’s hier noch ihr Bestes geleistet. Am näch-<lb/>
sten steht ihm <hirendition="#g">Franciabigio</hi> in der (durch den bekannten Ham-<lb/>
merschlag verstümmelten) Vermählung Mariä, einem Werke des em-<lb/>
sigen und begeisterten Wetteifers. In <hirendition="#g">Pontormo’s</hi> Heimsuchung,<lb/>
welche bei Weitem sein Hauptwerk ist, steigert sich die Auffassung<lb/>
Andrea’s und Bartolommeo’s mit äusserstem Kraftaufwand zu einem<lb/>
neuen Ganzen. Nur Mariä Himmelfahrt, von <hirendition="#g">Rosso</hi>, zeigt den Styl<lb/>
Andrea’s allerdings im Zustande der Verwilderung.</p><lb/><noteplace="left">b</note><p>Ausserdem hat Andrea das einzige <hirendition="#g">Abendmahl</hi> geschaffen, wel-<lb/>
ches demjenigen Lionardo’s wenigstens sich von Ferne nähern darf:<lb/>
das grosse, theilweise vortrefflich erhaltene, theilweise sehr entstellte<lb/>
Frescobild im Refectorium des ehemaligen Klosters S. <hirendition="#g">Salvi</hi> bei Flo-<lb/>
renz. (Zehn Minuten vor Porta della Croce, von der Strasse links<lb/></p></div></body></text></TEI>
[886/0908]
Malerei des XVI. Jahrhunderts. Andrea del Sarto.
Als historischer Erzähler hat Andrea gleichwohl Unvergängliches
geleistet. Die Fresken in der Vorhalle der Annunziata, be-
gonnen 1510, zeigen zwar zum Theil dieselbe fast zu strenge archi-
tektonische Anordnung; in den drei ersten Bildern links, aus der Le-
gende des S. Filippo Benizzi, bildet sich die Gruppe coulissenartig
ansteigend zur Pyramide; das eigentlich Dramatische, Bedeutend-Mo-
mentane kömmt nirgends besonders zu seinem Rechte; in der Anbe-
tung der Könige (letztes Bild rechts) wird man die Hauptgruppe
sogar befangen finden. Allein es ist durch diese Malereien die won-
nigste Fülle neuer Lebensmotive verbreitet; man geniesst mit dem
Maler das hohe Glück, schlichte Lebensäusserungen in der reinsten
und vollkommensten Form, in edler Abwägung gegen einander, in
weiter Räumlichkeit schön vertheilt anschauen zu können. Bei der
Betrachtung des Einzelnen prägen sich zumal eine Anzahl von Ge-
stalten des 1., 2. und 5. Bildes links unauslöschlich ein; trotz aller
Verwitterung wird man im letztgenannten (Bekleidung des Aussätzigen)
in der Gestalt des S. Filippo eine der höchsten Schöpfungen der gol-
denen Zeit erkennen. Die Geburt Mariä (vorletztes Bild rechts) ist
die letzte, in lauter Schönheit aufgehende Redaction dieses Gegenstan-
des; noch Domenico Ghirlandajo erscheint neben diesem wunderbaren
Reichthum einseitig und herb. Ausser den Bildern der ältern Meister
(Alessio Baldovinetti’s Geburt Christi, letztes Bild links, und
Cosimo Rosselli’s Einkleidung des S. Filippo, vorletztes links)
haben die Schüler Andrea’s hier noch ihr Bestes geleistet. Am näch-
sten steht ihm Franciabigio in der (durch den bekannten Ham-
merschlag verstümmelten) Vermählung Mariä, einem Werke des em-
sigen und begeisterten Wetteifers. In Pontormo’s Heimsuchung,
welche bei Weitem sein Hauptwerk ist, steigert sich die Auffassung
Andrea’s und Bartolommeo’s mit äusserstem Kraftaufwand zu einem
neuen Ganzen. Nur Mariä Himmelfahrt, von Rosso, zeigt den Styl
Andrea’s allerdings im Zustande der Verwilderung.
a
Ausserdem hat Andrea das einzige Abendmahl geschaffen, wel-
ches demjenigen Lionardo’s wenigstens sich von Ferne nähern darf:
das grosse, theilweise vortrefflich erhaltene, theilweise sehr entstellte
Frescobild im Refectorium des ehemaligen Klosters S. Salvi bei Flo-
renz. (Zehn Minuten vor Porta della Croce, von der Strasse links
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855, S. 886. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_cicerone_1855/908>, abgerufen am 05.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.