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Burckhardt, Walther: Die Organisation der Rechtsgemeinschaft. Basel, 1927.

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II. Teil. Die staatliche Verfassung.
diese Urteile, daß die ganze Betrachtungsweise sinnvoll sei und
nicht ein sinnloses Gaukelspiel subjektiver Phantasie, kann man
sich wieder nur dadurch anschaulich machen, daß man sie sich
ganz wegdenkt und sich frägt: welchen Sinn hat unser Gebahren
und die Ordnung unseres Gebahrens ohne diese Bezugnahme auf
das unabweisbare Gefühl; wenn man sich vom Recht die Berufung
auf die Gerechtigkeit, den gefühlsmäßigen Grund des ganzen Rechts-
gebäudes, wegdenkt? Die Folge ist einfach einzusehen: wenn die
Berufung auf die Gerechtigkeit eine Illusion ist, hat es keinen Sinn,
nach der Gerechtigkeit eines Gesetzes zu fragen; alle Rechtsvor-
schriften sind gleichviel "wert"; sie sind nur den Menschen mehr
oder weniger angenehm und erwünscht. Dann läßt sich aber auch
kein "Grund" angeben, weshalb es überhaupt ein Recht geben
muß demjenigen, der keines wünscht; und diejenigen, die nichts
ohne Beweis und ohne logische Ableitung gelten lassen wollen,
bleiben im Widerspruch stecken, daß ihr ganzes Gebäude eben
dieser Grundlage entbehrt. Die ganze Rechtsordnung ist dann
nur ein kluggeführtes System von Drohungen einer mächtigen
Gruppe gegenüber der oder den schwächeren, wie die Drohungen
des Tierbändigers im Raubtierkäfig1. Das Recht löst sich auf
in ein Spiel psychologischer Kräfte, das wohl der theoretischen
Erkenntnis des Psychologen, aber nicht mehr dem Urteil der
wertenden Vernunft zugänglich ist; und jede Erörterung darüber,

die Gerechtigkeit auch nicht definierbar ist, wie Erich Kaufmann, Die
Gleichheit vor dem Gesetz im Sinne des Art. 109 RV; Bericht an die
Tagung der Staatsrechtslehrer (1926), S.-A. 12, richtig bemerkt. Sie teilt
bekanntlich diesen "Mangel" mit anderen unentbehrlichen Begriffen.
1 Daß tatsächlich das positive Recht oft und vielleicht immer bis zu
einem gewissen Grad das Produkt des Parallelogrammes der subjektiven
Kräfte, der widerstreitenden Interessen ist, soll damit keineswegs in Ab-
rede gestellt werden; aber das ist nicht die Frage. Wir fragten nicht, unter
welchen Einwirkungen die rechtssetzenden Entschließungen tatsächlich
zustande kommen; denn das Recht, das daraus hervorgeht, kann sehr wohl
ungerecht und unvernünftig sein; sondern wie man es sich als eine ver-
nünftige Ordnung denken müsse. Wir antworten: als den Versuch zur Ver-
wirklichung der Rechtsidee. Die gegenteilige Ansicht geht, wenn sie folge-
richtig ausgedacht wird, dahin, daß das Recht das psychologisch not-
wendige Ergebnis einer gegenseitigen Einwirkung sei und überhaupt nicht
anders denkbar sei als in dieser kausalen Betrachtung, womit auch das
Postulat einer gerechten Ordnung dahinfällt. Das ist der Gegensatz.

II. Teil. Die staatliche Verfassung.
diese Urteile, daß die ganze Betrachtungsweise sinnvoll sei und
nicht ein sinnloses Gaukelspiel subjektiver Phantasie, kann man
sich wieder nur dadurch anschaulich machen, daß man sie sich
ganz wegdenkt und sich frägt: welchen Sinn hat unser Gebahren
und die Ordnung unseres Gebahrens ohne diese Bezugnahme auf
das unabweisbare Gefühl; wenn man sich vom Recht die Berufung
auf die Gerechtigkeit, den gefühlsmäßigen Grund des ganzen Rechts-
gebäudes, wegdenkt? Die Folge ist einfach einzusehen: wenn die
Berufung auf die Gerechtigkeit eine Illusion ist, hat es keinen Sinn,
nach der Gerechtigkeit eines Gesetzes zu fragen; alle Rechtsvor-
schriften sind gleichviel „wert“; sie sind nur den Menschen mehr
oder weniger angenehm und erwünscht. Dann läßt sich aber auch
kein „Grund“ angeben, weshalb es überhaupt ein Recht geben
muß demjenigen, der keines wünscht; und diejenigen, die nichts
ohne Beweis und ohne logische Ableitung gelten lassen wollen,
bleiben im Widerspruch stecken, daß ihr ganzes Gebäude eben
dieser Grundlage entbehrt. Die ganze Rechtsordnung ist dann
nur ein kluggeführtes System von Drohungen einer mächtigen
Gruppe gegenüber der oder den schwächeren, wie die Drohungen
des Tierbändigers im Raubtierkäfig1. Das Recht löst sich auf
in ein Spiel psychologischer Kräfte, das wohl der theoretischen
Erkenntnis des Psychologen, aber nicht mehr dem Urteil der
wertenden Vernunft zugänglich ist; und jede Erörterung darüber,

die Gerechtigkeit auch nicht definierbar ist, wie Erich Kaufmann, Die
Gleichheit vor dem Gesetz im Sinne des Art. 109 RV; Bericht an die
Tagung der Staatsrechtslehrer (1926), S.-A. 12, richtig bemerkt. Sie teilt
bekanntlich diesen „Mangel“ mit anderen unentbehrlichen Begriffen.
1 Daß tatsächlich das positive Recht oft und vielleicht immer bis zu
einem gewissen Grad das Produkt des Parallelogrammes der subjektiven
Kräfte, der widerstreitenden Interessen ist, soll damit keineswegs in Ab-
rede gestellt werden; aber das ist nicht die Frage. Wir fragten nicht, unter
welchen Einwirkungen die rechtssetzenden Entschließungen tatsächlich
zustande kommen; denn das Recht, das daraus hervorgeht, kann sehr wohl
ungerecht und unvernünftig sein; sondern wie man es sich als eine ver-
nünftige Ordnung denken müsse. Wir antworten: als den Versuch zur Ver-
wirklichung der Rechtsidee. Die gegenteilige Ansicht geht, wenn sie folge-
richtig ausgedacht wird, dahin, daß das Recht das psychologisch not-
wendige Ergebnis einer gegenseitigen Einwirkung sei und überhaupt nicht
anders denkbar sei als in dieser kausalen Betrachtung, womit auch das
Postulat einer gerechten Ordnung dahinfällt. Das ist der Gegensatz.
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[254/0269] II. Teil. Die staatliche Verfassung. diese Urteile, daß die ganze Betrachtungsweise sinnvoll sei und nicht ein sinnloses Gaukelspiel subjektiver Phantasie, kann man sich wieder nur dadurch anschaulich machen, daß man sie sich ganz wegdenkt und sich frägt: welchen Sinn hat unser Gebahren und die Ordnung unseres Gebahrens ohne diese Bezugnahme auf das unabweisbare Gefühl; wenn man sich vom Recht die Berufung auf die Gerechtigkeit, den gefühlsmäßigen Grund des ganzen Rechts- gebäudes, wegdenkt? Die Folge ist einfach einzusehen: wenn die Berufung auf die Gerechtigkeit eine Illusion ist, hat es keinen Sinn, nach der Gerechtigkeit eines Gesetzes zu fragen; alle Rechtsvor- schriften sind gleichviel „wert“; sie sind nur den Menschen mehr oder weniger angenehm und erwünscht. Dann läßt sich aber auch kein „Grund“ angeben, weshalb es überhaupt ein Recht geben muß demjenigen, der keines wünscht; und diejenigen, die nichts ohne Beweis und ohne logische Ableitung gelten lassen wollen, bleiben im Widerspruch stecken, daß ihr ganzes Gebäude eben dieser Grundlage entbehrt. Die ganze Rechtsordnung ist dann nur ein kluggeführtes System von Drohungen einer mächtigen Gruppe gegenüber der oder den schwächeren, wie die Drohungen des Tierbändigers im Raubtierkäfig 1. Das Recht löst sich auf in ein Spiel psychologischer Kräfte, das wohl der theoretischen Erkenntnis des Psychologen, aber nicht mehr dem Urteil der wertenden Vernunft zugänglich ist; und jede Erörterung darüber, 3 1 Daß tatsächlich das positive Recht oft und vielleicht immer bis zu einem gewissen Grad das Produkt des Parallelogrammes der subjektiven Kräfte, der widerstreitenden Interessen ist, soll damit keineswegs in Ab- rede gestellt werden; aber das ist nicht die Frage. Wir fragten nicht, unter welchen Einwirkungen die rechtssetzenden Entschließungen tatsächlich zustande kommen; denn das Recht, das daraus hervorgeht, kann sehr wohl ungerecht und unvernünftig sein; sondern wie man es sich als eine ver- nünftige Ordnung denken müsse. Wir antworten: als den Versuch zur Ver- wirklichung der Rechtsidee. Die gegenteilige Ansicht geht, wenn sie folge- richtig ausgedacht wird, dahin, daß das Recht das psychologisch not- wendige Ergebnis einer gegenseitigen Einwirkung sei und überhaupt nicht anders denkbar sei als in dieser kausalen Betrachtung, womit auch das Postulat einer gerechten Ordnung dahinfällt. Das ist der Gegensatz. 3 die Gerechtigkeit auch nicht definierbar ist, wie Erich Kaufmann, Die Gleichheit vor dem Gesetz im Sinne des Art. 109 RV; Bericht an die Tagung der Staatsrechtslehrer (1926), S.-A. 12, richtig bemerkt. Sie teilt bekanntlich diesen „Mangel“ mit anderen unentbehrlichen Begriffen.

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Zitationshilfe: Burckhardt, Walther: Die Organisation der Rechtsgemeinschaft. Basel, 1927, S. 254. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_rechtsgemeinschaft_1927/269>, abgerufen am 24.11.2024.