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Burckhardt, Jacob: Die Cultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch. Basel, 1860.

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auf was für Vorzüge hier geachtet wurde und wie wenig4. Abschnitt.
Dank die durchgeführten Charactere geerntet haben würden.
Natürlich bilden auch die Gedichte selbst bei sobewandten
Umständen kein geschlossenes Ganzes und könnten halb oder
auch doppelt so lang sein als sie sind; ihre Composition ist
nicht die eines großen Historienbildes, sondern die eines
Frieses oder einer von bunten Gestalten umgaukelten pracht-
vollen Fruchtschnur. So wenig man in den Figuren und
dem Rankenwerk eines Frieses durchgeführte individuelle
Formen, tiefe Perspectiven und verschiedene Pläne fordert
oder auch nur gestattet, so wenig erwartete man es in diesen
Gedichten.

Die bunte Fülle der Erfindungen, durch welche be-
sonders Bojardo stets von Neuem überrascht, spottet aller
unserer jetzt geltenden Schuldefinitionen vom Wesen der
epischen Poesie. Für die damalige Zeit war es die ange-Das einzig
mögliche Epos.

nehmste Diversion gegenüber der Beschäftigung mit dem
Alterthum, ja der einzig mögliche Ausweg wenn man
überhaupt wieder zu einer selbständigen erzählenden Dichtung
gelangen sollte. Denn die Poetisirung der Geschichte des
Alterthums führte doch nur auf jene Irrpfade, welche Pe-
trarca betrat mit seiner "Africa" in lateinischen Hexametern
und anderthalb Jahrhunderte später Trissino mit seinem
"von den Gothen befreiten Italien" in versi sciolti, einem
enormen Gedichte von tadelloser Sprache und Versification,
wo man nur im Zweifel sein kann ob die Geschichte oder
die Poesie bei dem unglücklichen Bündniß übler weggekom-
men sei. Und wohin verlockte Dante diejenigen, die ihn
nachahmten? Die visionären Trionfi des Petrarca sind eben
noch das Letzte, was dabei mit Geschmack zu erreichen war,
Boccaccio's "verliebte Vision" ist schon wesentlich bloße
Aufzählung historischer und fabelhafter Personen nach alle-
gorischen Categorien. Andere leiten dann, was sie irgend
vorzubringen haben, mit einer barocken Nachahmung von
Dante's erstem Gesang ein und versehen sich dabei mit

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auf was für Vorzüge hier geachtet wurde und wie wenig4. Abſchnitt.
Dank die durchgeführten Charactere geerntet haben würden.
Natürlich bilden auch die Gedichte ſelbſt bei ſobewandten
Umſtänden kein geſchloſſenes Ganzes und könnten halb oder
auch doppelt ſo lang ſein als ſie ſind; ihre Compoſition iſt
nicht die eines großen Hiſtorienbildes, ſondern die eines
Frieſes oder einer von bunten Geſtalten umgaukelten pracht-
vollen Fruchtſchnur. So wenig man in den Figuren und
dem Rankenwerk eines Frieſes durchgeführte individuelle
Formen, tiefe Perſpectiven und verſchiedene Pläne fordert
oder auch nur geſtattet, ſo wenig erwartete man es in dieſen
Gedichten.

Die bunte Fülle der Erfindungen, durch welche be-
ſonders Bojardo ſtets von Neuem überraſcht, ſpottet aller
unſerer jetzt geltenden Schuldefinitionen vom Weſen der
epiſchen Poeſie. Für die damalige Zeit war es die ange-Das einzig
mögliche Epos.

nehmſte Diverſion gegenüber der Beſchäftigung mit dem
Alterthum, ja der einzig mögliche Ausweg wenn man
überhaupt wieder zu einer ſelbſtändigen erzählenden Dichtung
gelangen ſollte. Denn die Poetiſirung der Geſchichte des
Alterthums führte doch nur auf jene Irrpfade, welche Pe-
trarca betrat mit ſeiner „Africa“ in lateiniſchen Hexametern
und anderthalb Jahrhunderte ſpäter Triſſino mit ſeinem
„von den Gothen befreiten Italien“ in versi sciolti, einem
enormen Gedichte von tadelloſer Sprache und Verſification,
wo man nur im Zweifel ſein kann ob die Geſchichte oder
die Poeſie bei dem unglücklichen Bündniß übler weggekom-
men ſei. Und wohin verlockte Dante diejenigen, die ihn
nachahmten? Die viſionären Trionfi des Petrarca ſind eben
noch das Letzte, was dabei mit Geſchmack zu erreichen war,
Boccaccio's „verliebte Viſion“ iſt ſchon weſentlich bloße
Aufzählung hiſtoriſcher und fabelhafter Perſonen nach alle-
goriſchen Categorien. Andere leiten dann, was ſie irgend
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[323/0333] auf was für Vorzüge hier geachtet wurde und wie wenig Dank die durchgeführten Charactere geerntet haben würden. Natürlich bilden auch die Gedichte ſelbſt bei ſobewandten Umſtänden kein geſchloſſenes Ganzes und könnten halb oder auch doppelt ſo lang ſein als ſie ſind; ihre Compoſition iſt nicht die eines großen Hiſtorienbildes, ſondern die eines Frieſes oder einer von bunten Geſtalten umgaukelten pracht- vollen Fruchtſchnur. So wenig man in den Figuren und dem Rankenwerk eines Frieſes durchgeführte individuelle Formen, tiefe Perſpectiven und verſchiedene Pläne fordert oder auch nur geſtattet, ſo wenig erwartete man es in dieſen Gedichten. 4. Abſchnitt. Die bunte Fülle der Erfindungen, durch welche be- ſonders Bojardo ſtets von Neuem überraſcht, ſpottet aller unſerer jetzt geltenden Schuldefinitionen vom Weſen der epiſchen Poeſie. Für die damalige Zeit war es die ange- nehmſte Diverſion gegenüber der Beſchäftigung mit dem Alterthum, ja der einzig mögliche Ausweg wenn man überhaupt wieder zu einer ſelbſtändigen erzählenden Dichtung gelangen ſollte. Denn die Poetiſirung der Geſchichte des Alterthums führte doch nur auf jene Irrpfade, welche Pe- trarca betrat mit ſeiner „Africa“ in lateiniſchen Hexametern und anderthalb Jahrhunderte ſpäter Triſſino mit ſeinem „von den Gothen befreiten Italien“ in versi sciolti, einem enormen Gedichte von tadelloſer Sprache und Verſification, wo man nur im Zweifel ſein kann ob die Geſchichte oder die Poeſie bei dem unglücklichen Bündniß übler weggekom- men ſei. Und wohin verlockte Dante diejenigen, die ihn nachahmten? Die viſionären Trionfi des Petrarca ſind eben noch das Letzte, was dabei mit Geſchmack zu erreichen war, Boccaccio's „verliebte Viſion“ iſt ſchon weſentlich bloße Aufzählung hiſtoriſcher und fabelhafter Perſonen nach alle- goriſchen Categorien. Andere leiten dann, was ſie irgend vorzubringen haben, mit einer barocken Nachahmung von Dante's erſtem Geſang ein und verſehen ſich dabei mit Das einzig mögliche Epos. 21*

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Zitationshilfe: Burckhardt, Jacob: Die Cultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch. Basel, 1860, S. 323. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_renaissance_1860/333>, abgerufen am 22.11.2024.