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Burckhardt, Jacob: Die Cultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch. Basel, 1860.

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4. Abschnitt.irgend einem allegorischen Begleiter, der die Stelle des
Virgil einnimmt; Uberti hat für sein geographisches Ge-
dicht (Dittamondo) den Solinus gewählt, Giovanni Santi
für sein Lobgedicht auf Federigo von Urbino den Plutarch 1).
Von diesen falschen Fährten erlöste einstweilen nur diejenige
epische Dichtung, welche von Pulci und Bojardo vertreten
war. Die Begierde und Bewunderung, mit der man ihr
entgegenkam -- wie man vielleicht bis an der Tage Abend
mit dem Epos nicht mehr thun wird -- beweist glänzend,
wie sehr die Sache ein Bedürfniß war. Es handelt sich
gar nicht darum, ob in diesen Schöpfungen die seit unserm
Jahrhundert aus Homer und den Nibelungen abstrahirten
Ideale des wahren Heldengedichtes verwirklicht seien oder
nicht; ein Ideal ihrer Zeit verwirklichten sie jedenfalls.
Mit ihren massenhaften Kampfbeschreibungen, die für uns
der am meisten ermüdende Bestandtheil sind, begegneten sie
überdieß, wie gesagt, einem Sachinteresse, von dem wir
uns schwer eine richtige Vorstellung machen, so wenig als
von der Hochschätzung des lebendigen momentanen Schil-
derns überhaupt.

Ariosto.So kann man denn auch an Ariosto keinen falschern
Maßstab legen als wenn man in seinem Orlando Furioso 2)
nach Characteren suchen geht. Sie sind hie und da vor-
handen und sogar mit Liebe behandelt, allein das Gedicht
stützt sich keinen Augenblick auf sie und würde durch ihre
Hervorhebung sogar eher verlieren als gewinnen. Jene
Anforderung hängt aber mit einem allgemeinern Begehren
zusammen, welchem Ariosto nicht im Sinne unserer Zeit
genügt; von einem so gewaltig begabten und berühmten
Dichter nämlich hätte man gerne überhaupt etwas Anderes
als Rolandsabenteuer u. dgl. Er hätte sollen in einem
großen Werke die tiefsten Conflicte der Menschenbrust, die

1) Vasari VIII, 71, im Commentar zur Vita di Raffaelle.
2) Die erste Ausgabe 1516.

4. Abſchnitt.irgend einem allegoriſchen Begleiter, der die Stelle des
Virgil einnimmt; Uberti hat für ſein geographiſches Ge-
dicht (Dittamondo) den Solinus gewählt, Giovanni Santi
für ſein Lobgedicht auf Federigo von Urbino den Plutarch 1).
Von dieſen falſchen Fährten erlöste einſtweilen nur diejenige
epiſche Dichtung, welche von Pulci und Bojardo vertreten
war. Die Begierde und Bewunderung, mit der man ihr
entgegenkam — wie man vielleicht bis an der Tage Abend
mit dem Epos nicht mehr thun wird — beweist glänzend,
wie ſehr die Sache ein Bedürfniß war. Es handelt ſich
gar nicht darum, ob in dieſen Schöpfungen die ſeit unſerm
Jahrhundert aus Homer und den Nibelungen abſtrahirten
Ideale des wahren Heldengedichtes verwirklicht ſeien oder
nicht; ein Ideal ihrer Zeit verwirklichten ſie jedenfalls.
Mit ihren maſſenhaften Kampfbeſchreibungen, die für uns
der am meiſten ermüdende Beſtandtheil ſind, begegneten ſie
überdieß, wie geſagt, einem Sachintereſſe, von dem wir
uns ſchwer eine richtige Vorſtellung machen, ſo wenig als
von der Hochſchätzung des lebendigen momentanen Schil-
derns überhaupt.

Arioſto.So kann man denn auch an Arioſto keinen falſchern
Maßſtab legen als wenn man in ſeinem Orlando Furioſo 2)
nach Characteren ſuchen geht. Sie ſind hie und da vor-
handen und ſogar mit Liebe behandelt, allein das Gedicht
ſtützt ſich keinen Augenblick auf ſie und würde durch ihre
Hervorhebung ſogar eher verlieren als gewinnen. Jene
Anforderung hängt aber mit einem allgemeinern Begehren
zuſammen, welchem Arioſto nicht im Sinne unſerer Zeit
genügt; von einem ſo gewaltig begabten und berühmten
Dichter nämlich hätte man gerne überhaupt etwas Anderes
als Rolandsabenteuer u. dgl. Er hätte ſollen in einem
großen Werke die tiefſten Conflicte der Menſchenbruſt, die

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[324/0334] irgend einem allegoriſchen Begleiter, der die Stelle des Virgil einnimmt; Uberti hat für ſein geographiſches Ge- dicht (Dittamondo) den Solinus gewählt, Giovanni Santi für ſein Lobgedicht auf Federigo von Urbino den Plutarch 1). Von dieſen falſchen Fährten erlöste einſtweilen nur diejenige epiſche Dichtung, welche von Pulci und Bojardo vertreten war. Die Begierde und Bewunderung, mit der man ihr entgegenkam — wie man vielleicht bis an der Tage Abend mit dem Epos nicht mehr thun wird — beweist glänzend, wie ſehr die Sache ein Bedürfniß war. Es handelt ſich gar nicht darum, ob in dieſen Schöpfungen die ſeit unſerm Jahrhundert aus Homer und den Nibelungen abſtrahirten Ideale des wahren Heldengedichtes verwirklicht ſeien oder nicht; ein Ideal ihrer Zeit verwirklichten ſie jedenfalls. Mit ihren maſſenhaften Kampfbeſchreibungen, die für uns der am meiſten ermüdende Beſtandtheil ſind, begegneten ſie überdieß, wie geſagt, einem Sachintereſſe, von dem wir uns ſchwer eine richtige Vorſtellung machen, ſo wenig als von der Hochſchätzung des lebendigen momentanen Schil- derns überhaupt. 4. Abſchnitt. So kann man denn auch an Arioſto keinen falſchern Maßſtab legen als wenn man in ſeinem Orlando Furioſo 2) nach Characteren ſuchen geht. Sie ſind hie und da vor- handen und ſogar mit Liebe behandelt, allein das Gedicht ſtützt ſich keinen Augenblick auf ſie und würde durch ihre Hervorhebung ſogar eher verlieren als gewinnen. Jene Anforderung hängt aber mit einem allgemeinern Begehren zuſammen, welchem Arioſto nicht im Sinne unſerer Zeit genügt; von einem ſo gewaltig begabten und berühmten Dichter nämlich hätte man gerne überhaupt etwas Anderes als Rolandsabenteuer u. dgl. Er hätte ſollen in einem großen Werke die tiefſten Conflicte der Menſchenbruſt, die Arioſto. 1) Vasari VIII, 71, im Commentar zur Vita di Raffaelle. 2) Die erſte Ausgabe 1516.

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Zitationshilfe: Burckhardt, Jacob: Die Cultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch. Basel, 1860, S. 324. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_renaissance_1860/334>, abgerufen am 21.11.2024.