6. Abschnitt.leichter vergessen, während die italienische Phantasie das Bild des Unrechts in furchtbarer Frische erhält 1). Daß zu- gleich in der Volksmoral die Blutrache als eine Pflicht gilt und oft auf das Gräßlichste geübt wird, giebt dieser allge- meinen Rachsucht noch einen besondern Grund und Boden. Regierungen und Tribunale der Städte erkennen ihr Dasein und ihre Berechtigung an und suchen nur den schlimmsten Excessen zu steuern. Aber auch unter den Bauern kommen thyesteische Mahlzeiten und weit sich ausbreitender Wechsel- mord vor; hören wir nur einen Zeugen 2).
Blutrache der Bauern,In der Landschaft von Acquapendente hüteten drei Hirtenknaben das Vieh und Einer sagte: wir wollen ver- suchen wie man die Leute henkt. Als der Eine dem Andern auf die Schulter saß und der Dritte den Strick zuerst um dessen Hals schlang und dann an eine Eiche band, kam der Wolf, so daß die Beiden entflohen und jenen hängen ließen. Hernach fanden sie ihn todt und begruben ihn. Sonntags kam sein Vater um ihm Brod zu bringen, und einer von den Beiden gestand ihm den Hergang und zeigte ihm das Grab. Der Alte aber tödtete diesen mit einem Messer, schnitt ihn auf, nahm die Leber und bewirthete damit zu Hause dessen Vater; dann sagte er ihm, wessen Leber er gegessen. Hierauf begann das wechselseitige Morden zwi- schen den beiden Familien, und binnen einem Monat waren 36 Personen, Weiber sowohl als Männer, umgebracht.
der höhern Stände.Und solche Vendetten, erblich bis auf mehrere Genera- tionen, auf Seitenverwandte und Freunde, erstreckten sich auch weit in die höhern Stände hinauf. Chroniken sowohl als Novellensammlungen sind voll von Beispielen, zumal von Racheübungen wegen entehrter Weiber. Der classische
1) Dieses Raisonnement des geistreichen Stendhal (la chartreuse de Parme, ed. Delahays, p. 355) scheint mir auf tiefer psychologi- scher Beobachtung zu ruhen.
2)Graziani, cronaca di Perugia, zum J. 1437 (Arch. stor. XVI, I, p. 415).
6. Abſchnitt.leichter vergeſſen, während die italieniſche Phantaſie das Bild des Unrechts in furchtbarer Friſche erhält 1). Daß zu- gleich in der Volksmoral die Blutrache als eine Pflicht gilt und oft auf das Gräßlichſte geübt wird, giebt dieſer allge- meinen Rachſucht noch einen beſondern Grund und Boden. Regierungen und Tribunale der Städte erkennen ihr Daſein und ihre Berechtigung an und ſuchen nur den ſchlimmſten Exceſſen zu ſteuern. Aber auch unter den Bauern kommen thyeſteiſche Mahlzeiten und weit ſich ausbreitender Wechſel- mord vor; hören wir nur einen Zeugen 2).
Blutrache der Bauern,In der Landſchaft von Acquapendente hüteten drei Hirtenknaben das Vieh und Einer ſagte: wir wollen ver- ſuchen wie man die Leute henkt. Als der Eine dem Andern auf die Schulter ſaß und der Dritte den Strick zuerſt um deſſen Hals ſchlang und dann an eine Eiche band, kam der Wolf, ſo daß die Beiden entflohen und jenen hängen ließen. Hernach fanden ſie ihn todt und begruben ihn. Sonntags kam ſein Vater um ihm Brod zu bringen, und einer von den Beiden geſtand ihm den Hergang und zeigte ihm das Grab. Der Alte aber tödtete dieſen mit einem Meſſer, ſchnitt ihn auf, nahm die Leber und bewirthete damit zu Hauſe deſſen Vater; dann ſagte er ihm, weſſen Leber er gegeſſen. Hierauf begann das wechſelſeitige Morden zwi- ſchen den beiden Familien, und binnen einem Monat waren 36 Perſonen, Weiber ſowohl als Männer, umgebracht.
der höhern Stände.Und ſolche Vendetten, erblich bis auf mehrere Genera- tionen, auf Seitenverwandte und Freunde, erſtreckten ſich auch weit in die höhern Stände hinauf. Chroniken ſowohl als Novellenſammlungen ſind voll von Beiſpielen, zumal von Racheübungen wegen entehrter Weiber. Der claſſiſche
1) Dieſes Raiſonnement des geiſtreichen Stendhal (la chartreuse de Parme, ed. Delahays, p. 355) ſcheint mir auf tiefer pſychologi- ſcher Beobachtung zu ruhen.
2)Graziani, cronaca di Perugia, zum J. 1437 (Arch. stor. XVI, I, p. 415).
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0444"n="434"/><noteplace="left"><hirendition="#b"><hirendition="#u">6. Abſchnitt.</hi></hi></note>leichter vergeſſen, während die italieniſche Phantaſie das<lb/>
Bild des Unrechts in furchtbarer Friſche erhält <noteplace="foot"n="1)">Dieſes Raiſonnement des geiſtreichen Stendhal (<hirendition="#aq">la chartreuse de<lb/>
Parme, ed. Delahays, p.</hi> 355) ſcheint mir auf tiefer pſychologi-<lb/>ſcher Beobachtung zu ruhen.</note>. Daß zu-<lb/>
gleich in der Volksmoral die Blutrache als eine Pflicht gilt<lb/>
und oft auf das Gräßlichſte geübt wird, giebt dieſer allge-<lb/>
meinen Rachſucht noch einen beſondern Grund und Boden.<lb/>
Regierungen und Tribunale der Städte erkennen ihr Daſein<lb/>
und ihre Berechtigung an und ſuchen nur den ſchlimmſten<lb/>
Exceſſen zu ſteuern. Aber auch unter den Bauern kommen<lb/>
thyeſteiſche Mahlzeiten und weit ſich ausbreitender Wechſel-<lb/>
mord vor; hören wir nur einen Zeugen <noteplace="foot"n="2)"><hirendition="#aq">Graziani, cronaca di Perugia,</hi> zum J. 1437 (<hirendition="#aq">Arch. stor. XVI,<lb/>
I, p.</hi> 415).</note>.</p><lb/><p><noteplace="left">Blutrache der<lb/>
Bauern,</note>In der Landſchaft von Acquapendente hüteten drei<lb/>
Hirtenknaben das Vieh und Einer ſagte: wir wollen ver-<lb/>ſuchen wie man die Leute henkt. Als der Eine dem Andern<lb/>
auf die Schulter ſaß und der Dritte den Strick zuerſt um<lb/>
deſſen Hals ſchlang und dann an eine Eiche band, kam der<lb/>
Wolf, ſo daß die Beiden entflohen und jenen hängen ließen.<lb/>
Hernach fanden ſie ihn todt und begruben ihn. Sonntags<lb/>
kam ſein Vater um ihm Brod zu bringen, und einer von<lb/>
den Beiden geſtand ihm den Hergang und zeigte ihm das<lb/>
Grab. Der Alte aber tödtete dieſen mit einem Meſſer,<lb/>ſchnitt ihn auf, nahm die Leber und bewirthete damit zu<lb/>
Hauſe deſſen Vater; dann ſagte er ihm, weſſen Leber er<lb/>
gegeſſen. Hierauf begann das wechſelſeitige Morden zwi-<lb/>ſchen den beiden Familien, und binnen einem Monat waren<lb/>
36 Perſonen, Weiber ſowohl als Männer, umgebracht.</p><lb/><p><noteplace="left">der höhern<lb/>
Stände.</note>Und ſolche Vendetten, erblich bis auf mehrere Genera-<lb/>
tionen, auf Seitenverwandte und Freunde, erſtreckten ſich<lb/>
auch weit in die höhern Stände hinauf. Chroniken ſowohl<lb/>
als Novellenſammlungen ſind voll von Beiſpielen, zumal<lb/>
von Racheübungen wegen entehrter Weiber. Der claſſiſche<lb/></p></div></body></text></TEI>
[434/0444]
leichter vergeſſen, während die italieniſche Phantaſie das
Bild des Unrechts in furchtbarer Friſche erhält 1). Daß zu-
gleich in der Volksmoral die Blutrache als eine Pflicht gilt
und oft auf das Gräßlichſte geübt wird, giebt dieſer allge-
meinen Rachſucht noch einen beſondern Grund und Boden.
Regierungen und Tribunale der Städte erkennen ihr Daſein
und ihre Berechtigung an und ſuchen nur den ſchlimmſten
Exceſſen zu ſteuern. Aber auch unter den Bauern kommen
thyeſteiſche Mahlzeiten und weit ſich ausbreitender Wechſel-
mord vor; hören wir nur einen Zeugen 2).
6. Abſchnitt.
In der Landſchaft von Acquapendente hüteten drei
Hirtenknaben das Vieh und Einer ſagte: wir wollen ver-
ſuchen wie man die Leute henkt. Als der Eine dem Andern
auf die Schulter ſaß und der Dritte den Strick zuerſt um
deſſen Hals ſchlang und dann an eine Eiche band, kam der
Wolf, ſo daß die Beiden entflohen und jenen hängen ließen.
Hernach fanden ſie ihn todt und begruben ihn. Sonntags
kam ſein Vater um ihm Brod zu bringen, und einer von
den Beiden geſtand ihm den Hergang und zeigte ihm das
Grab. Der Alte aber tödtete dieſen mit einem Meſſer,
ſchnitt ihn auf, nahm die Leber und bewirthete damit zu
Hauſe deſſen Vater; dann ſagte er ihm, weſſen Leber er
gegeſſen. Hierauf begann das wechſelſeitige Morden zwi-
ſchen den beiden Familien, und binnen einem Monat waren
36 Perſonen, Weiber ſowohl als Männer, umgebracht.
Blutrache der
Bauern,
Und ſolche Vendetten, erblich bis auf mehrere Genera-
tionen, auf Seitenverwandte und Freunde, erſtreckten ſich
auch weit in die höhern Stände hinauf. Chroniken ſowohl
als Novellenſammlungen ſind voll von Beiſpielen, zumal
von Racheübungen wegen entehrter Weiber. Der claſſiſche
der höhern
Stände.
1) Dieſes Raiſonnement des geiſtreichen Stendhal (la chartreuse de
Parme, ed. Delahays, p. 355) ſcheint mir auf tiefer pſychologi-
ſcher Beobachtung zu ruhen.
2) Graziani, cronaca di Perugia, zum J. 1437 (Arch. stor. XVI,
I, p. 415).
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Burckhardt, Jacob: Die Cultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch. Basel, 1860, S. 434. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_renaissance_1860/444>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.