Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Campe, Joachim Heinrich: Theophron oder der erfahrne Rathgeber für die unerfahrne Jugend. Bd. 1. Hamburg, 1783.

Bild:
<< vorherige Seite

trübe ward, auf eine oder die andere Weise auch
wieder geläutert werden.

Noch eine vorläufige Bemerkung, welche dem
Menschenkenner gleichfals zu einiger Beruhigung
gereichen kan: die Menschen sind das, was
sie sind -- gut oder böse -- höchstselten
aus Grundsäzen, höchstselten aus eigener
freier Wahl, sondern meistentheils aus un-
wilkührlicher Gewöhnung, meistentheils
auch aus Noth und dringendem Bedürfniß
.
Diese Beobachtung gilt von ihren Tugenden wie
von ihren Lastern, vorzüglich aber von den leztern.
Seitdem die Menschen sich zu Tausenden und die
Tausende zu Millionen in einen einzigen Staats-
körper zusammengefügt haben; seitdem die Fürsten,
um diesen ungeheuern Körper nach ihrem Wohlge-
fallen zu lenken, das algewaltige Mittel der Ent-
nervung, die schönen Künste mit ihrer beständigen
Gefährtin, der Ueppigkeit, in Gang zu bringen
wußten, und seitdem hierauf durch übertriebene
Verfeinerung die wenigen ursprünglichen Triebe
der Menschheit zu unzählbaren einst unbekanten
Begierden gleichsam gespalten wurden: haben die

mensch-

truͤbe ward, auf eine oder die andere Weiſe auch
wieder gelaͤutert werden.

Noch eine vorlaͤufige Bemerkung, welche dem
Menſchenkenner gleichfals zu einiger Beruhigung
gereichen kan: die Menſchen ſind das, was
ſie ſind — gut oder boͤſe — hoͤchſtſelten
aus Grundſaͤzen, hoͤchſtſelten aus eigener
freier Wahl, ſondern meiſtentheils aus un-
wilkuͤhrlicher Gewoͤhnung, meiſtentheils
auch aus Noth und dringendem Beduͤrfniß
.
Dieſe Beobachtung gilt von ihren Tugenden wie
von ihren Laſtern, vorzuͤglich aber von den leztern.
Seitdem die Menſchen ſich zu Tauſenden und die
Tauſende zu Millionen in einen einzigen Staats-
koͤrper zuſammengefuͤgt haben; ſeitdem die Fuͤrſten,
um dieſen ungeheuern Koͤrper nach ihrem Wohlge-
fallen zu lenken, das algewaltige Mittel der Ent-
nervung, die ſchoͤnen Kuͤnſte mit ihrer beſtaͤndigen
Gefaͤhrtin, der Ueppigkeit, in Gang zu bringen
wußten, und ſeitdem hierauf durch uͤbertriebene
Verfeinerung die wenigen urſpruͤnglichen Triebe
der Menſchheit zu unzaͤhlbaren einſt unbekanten
Begierden gleichſam geſpalten wurden: haben die

menſch-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0125" n="95"/>
tru&#x0364;be ward, auf eine oder die andere Wei&#x017F;e auch<lb/>
wieder gela&#x0364;utert werden.</p><lb/>
        <p>Noch eine vorla&#x0364;ufige Bemerkung, welche dem<lb/>
Men&#x017F;chenkenner gleichfals zu einiger Beruhigung<lb/>
gereichen kan: <hi rendition="#fr">die Men&#x017F;chen &#x017F;ind das, was<lb/>
&#x017F;ie &#x017F;ind &#x2014; gut oder bo&#x0364;&#x017F;e &#x2014; ho&#x0364;ch&#x017F;t&#x017F;elten<lb/>
aus Grund&#x017F;a&#x0364;zen, ho&#x0364;ch&#x017F;t&#x017F;elten aus eigener<lb/>
freier Wahl, &#x017F;ondern mei&#x017F;tentheils aus un-<lb/>
wilku&#x0364;hrlicher Gewo&#x0364;hnung, mei&#x017F;tentheils<lb/>
auch aus Noth und dringendem Bedu&#x0364;rfniß</hi>.<lb/>
Die&#x017F;e Beobachtung gilt von ihren Tugenden wie<lb/>
von ihren La&#x017F;tern, vorzu&#x0364;glich aber von den leztern.<lb/>
Seitdem die Men&#x017F;chen &#x017F;ich zu Tau&#x017F;enden und die<lb/>
Tau&#x017F;ende zu Millionen in einen einzigen Staats-<lb/>
ko&#x0364;rper zu&#x017F;ammengefu&#x0364;gt haben; &#x017F;eitdem die Fu&#x0364;r&#x017F;ten,<lb/>
um die&#x017F;en ungeheuern Ko&#x0364;rper nach ihrem Wohlge-<lb/>
fallen zu lenken, das algewaltige Mittel der Ent-<lb/>
nervung, die &#x017F;cho&#x0364;nen Ku&#x0364;n&#x017F;te mit ihrer be&#x017F;ta&#x0364;ndigen<lb/>
Gefa&#x0364;hrtin, der Ueppigkeit, in Gang zu bringen<lb/>
wußten, und &#x017F;eitdem hierauf durch u&#x0364;bertriebene<lb/>
Verfeinerung die wenigen ur&#x017F;pru&#x0364;nglichen Triebe<lb/>
der Men&#x017F;chheit zu unza&#x0364;hlbaren ein&#x017F;t unbekanten<lb/>
Begierden gleich&#x017F;am ge&#x017F;palten wurden: haben die<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">men&#x017F;ch-</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[95/0125] truͤbe ward, auf eine oder die andere Weiſe auch wieder gelaͤutert werden. Noch eine vorlaͤufige Bemerkung, welche dem Menſchenkenner gleichfals zu einiger Beruhigung gereichen kan: die Menſchen ſind das, was ſie ſind — gut oder boͤſe — hoͤchſtſelten aus Grundſaͤzen, hoͤchſtſelten aus eigener freier Wahl, ſondern meiſtentheils aus un- wilkuͤhrlicher Gewoͤhnung, meiſtentheils auch aus Noth und dringendem Beduͤrfniß. Dieſe Beobachtung gilt von ihren Tugenden wie von ihren Laſtern, vorzuͤglich aber von den leztern. Seitdem die Menſchen ſich zu Tauſenden und die Tauſende zu Millionen in einen einzigen Staats- koͤrper zuſammengefuͤgt haben; ſeitdem die Fuͤrſten, um dieſen ungeheuern Koͤrper nach ihrem Wohlge- fallen zu lenken, das algewaltige Mittel der Ent- nervung, die ſchoͤnen Kuͤnſte mit ihrer beſtaͤndigen Gefaͤhrtin, der Ueppigkeit, in Gang zu bringen wußten, und ſeitdem hierauf durch uͤbertriebene Verfeinerung die wenigen urſpruͤnglichen Triebe der Menſchheit zu unzaͤhlbaren einſt unbekanten Begierden gleichſam geſpalten wurden: haben die menſch-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/campe_theophron01_1783
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/campe_theophron01_1783/125
Zitationshilfe: Campe, Joachim Heinrich: Theophron oder der erfahrne Rathgeber für die unerfahrne Jugend. Bd. 1. Hamburg, 1783, S. 95. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/campe_theophron01_1783/125>, abgerufen am 23.11.2024.