Hierzu komt noch dieses: da die ganze Kunst der feinen Lebensart darin besteht, den innern Menschen mit allen seinen Unarten, Leidenschaf- ten und Mängeln zu verbergen, und dagegen Em- pfindungen, Gesinnungen und Volkommenheiten zu lügen, welche man selbst nicht in sich fühlt: so hat man durch ein unablässiges Studium die- ser Kunst von früher Jugend an sich gewöhnt, seine ganze Aufmerksamkeit bei sich und andern blos auf das Aeusserliche zu richten, und bei allem, was man redet und thut, nur auf den Eindruk zu sehen, den die jedesmaligen Worte und Handlungen auf andere machen können. Sol man über etwas sein Urtheil fällen: so ist die Frage nicht, ob das, was man bejahen, oder verneinen wil, wahr oder unwahr sei: sondern lediglich, ob die Bejahung oder Verneinung desselben die vortheilhafteste Mei- nung von uns erwekken werde? Sol man sich ent- schließen, etwas zu thun oder nicht zu thun: so bekümmert man sich um das, was Pflicht und Gewissen von uns fodern, in der That am we- nigsten; die einzige große Angelegenheit ist zu er- wägen, was die Leute in dem einen oder dem an-
dern
Hierzu komt noch dieſes: da die ganze Kunſt der feinen Lebensart darin beſteht, den innern Menſchen mit allen ſeinen Unarten, Leidenſchaf- ten und Maͤngeln zu verbergen, und dagegen Em- pfindungen, Geſinnungen und Volkommenheiten zu luͤgen, welche man ſelbſt nicht in ſich fuͤhlt: ſo hat man durch ein unablaͤſſiges Studium die- ſer Kunſt von fruͤher Jugend an ſich gewoͤhnt, ſeine ganze Aufmerkſamkeit bei ſich und andern blos auf das Aeuſſerliche zu richten, und bei allem, was man redet und thut, nur auf den Eindruk zu ſehen, den die jedesmaligen Worte und Handlungen auf andere machen koͤnnen. Sol man uͤber etwas ſein Urtheil faͤllen: ſo iſt die Frage nicht, ob das, was man bejahen, oder verneinen wil, wahr oder unwahr ſei: ſondern lediglich, ob die Bejahung oder Verneinung deſſelben die vortheilhafteſte Mei- nung von uns erwekken werde? Sol man ſich ent- ſchließen, etwas zu thun oder nicht zu thun: ſo bekuͤmmert man ſich um das, was Pflicht und Gewiſſen von uns fodern, in der That am we- nigſten; die einzige große Angelegenheit iſt zu er- waͤgen, was die Leute in dem einen oder dem an-
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Hierzu komt noch dieſes: da die ganze Kunſt
der feinen Lebensart darin beſteht, den innern
Menſchen mit allen ſeinen Unarten, Leidenſchaf-
ten und Maͤngeln zu verbergen, und dagegen Em-
pfindungen, Geſinnungen und Volkommenheiten
zu luͤgen, welche man ſelbſt nicht in ſich fuͤhlt:
ſo hat man durch ein unablaͤſſiges Studium die-
ſer Kunſt von fruͤher Jugend an ſich gewoͤhnt, ſeine
ganze Aufmerkſamkeit bei ſich und andern blos auf
das Aeuſſerliche zu richten, und bei allem, was man
redet und thut, nur auf den Eindruk zu ſehen,
den die jedesmaligen Worte und Handlungen auf
andere machen koͤnnen. Sol man uͤber etwas
ſein Urtheil faͤllen: ſo iſt die Frage nicht, ob das,
was man bejahen, oder verneinen wil, wahr oder
unwahr ſei: ſondern lediglich, ob die Bejahung
oder Verneinung deſſelben die vortheilhafteſte Mei-
nung von uns erwekken werde? Sol man ſich ent-
ſchließen, etwas zu thun oder nicht zu thun: ſo
bekuͤmmert man ſich um das, was Pflicht und
Gewiſſen von uns fodern, in der That am we-
nigſten; die einzige große Angelegenheit iſt zu er-
waͤgen, was die Leute in dem einen oder dem an-
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Campe, Joachim Heinrich: Theophron oder der erfahrne Rathgeber für die unerfahrne Jugend. Bd. 1. Hamburg, 1783, S. 112. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/campe_theophron01_1783/142>, abgerufen am 23.11.2024.
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