Campe, Joachim Heinrich: Theophron oder der erfahrne Rathgeber für die unerfahrne Jugend. Bd. 1. Hamburg, 1783.tigkeit, um derentwillen der kurzsichtigere Theil So oft dir jemand aufstößt, der von Men- Man, *) Der jezige Erzbischof von Paris, der noch
Schulden zu bezahlen hat, und es daher seinem Vorgänger an Mildthätigkeit nicht gleich thun kan, sagte neulich hierüber fol- gende, seinem Verstande und Herzen Ehre machende Worte: "ehe ich wohlthätig sein darf, muß ich erst die Pflichten eines ehrlichen Mannes erfüllen." tigkeit, um derentwillen der kurzſichtigere Theil So oft dir jemand aufſtoͤßt, der von Men- Man, *) Der jezige Erzbiſchof von Paris, der noch
Schulden zu bezahlen hat, und es daher ſeinem Vorgaͤnger an Mildthaͤtigkeit nicht gleich thun kan, ſagte neulich hieruͤber fol- gende, ſeinem Verſtande und Herzen Ehre machende Worte: “ehe ich wohlthaͤtig ſein darf, muß ich erſt die Pflichten eines ehrlichen Mannes erfuͤllen.„ <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0233" n="203"/> tigkeit, um derentwillen der kurzſichtigere Theil<lb/> der Menſchen ſie bewundert und vergoͤttert, in<lb/> der That ſehr tadelnswuͤrdige und ſtrafbare Hand-<lb/> lungen ſein, wenn ſie nemlich mit Vernachlaͤſſi-<lb/> gung irgend einer hoͤhern oder dringendern <hi rendition="#fr">Pflicht</hi><lb/> geſchehn. <note place="foot" n="*)">Der jezige Erzbiſchof von Paris, der noch<lb/> Schulden zu bezahlen hat, und es daher<lb/> ſeinem Vorgaͤnger an Mildthaͤtigkeit nicht<lb/> gleich thun kan, ſagte neulich hieruͤber fol-<lb/> gende, ſeinem Verſtande und Herzen Ehre<lb/> machende Worte: “<hi rendition="#fr">ehe ich wohlthaͤtig<lb/> ſein darf, muß ich erſt die Pflichten eines<lb/> ehrlichen Mannes erfuͤllen</hi>.„</note> Hoͤre alſo auf, dich uͤber das Wi-<lb/> derſprechende in dem Karakter dieſer Leute zu<lb/> wundern, und vernim nun, wie du es anzu-<lb/> fangen habeſt, um von ihrer einſeitigen oder gar<lb/> heuchleriſchen Tugend dich nicht blenden oder<lb/> hintergehen zu laſſen.</p><lb/> <p>So oft dir jemand aufſtoͤßt, der von Men-<lb/> ſchenliebe und von Begierde nach Werken der<lb/> Mildthaͤtigkeit zu gluͤhen ſcheint: ſo ſuche, bevor<lb/> du uͤber ihn urtheileſt, erſt uͤber folgende Fragen<lb/> zur voͤlligen Gewißheit zu gelangen: hat der<lb/> <fw place="bottom" type="catch">Man,</fw><lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [203/0233]
tigkeit, um derentwillen der kurzſichtigere Theil
der Menſchen ſie bewundert und vergoͤttert, in
der That ſehr tadelnswuͤrdige und ſtrafbare Hand-
lungen ſein, wenn ſie nemlich mit Vernachlaͤſſi-
gung irgend einer hoͤhern oder dringendern Pflicht
geſchehn. *) Hoͤre alſo auf, dich uͤber das Wi-
derſprechende in dem Karakter dieſer Leute zu
wundern, und vernim nun, wie du es anzu-
fangen habeſt, um von ihrer einſeitigen oder gar
heuchleriſchen Tugend dich nicht blenden oder
hintergehen zu laſſen.
So oft dir jemand aufſtoͤßt, der von Men-
ſchenliebe und von Begierde nach Werken der
Mildthaͤtigkeit zu gluͤhen ſcheint: ſo ſuche, bevor
du uͤber ihn urtheileſt, erſt uͤber folgende Fragen
zur voͤlligen Gewißheit zu gelangen: hat der
Man,
*) Der jezige Erzbiſchof von Paris, der noch
Schulden zu bezahlen hat, und es daher
ſeinem Vorgaͤnger an Mildthaͤtigkeit nicht
gleich thun kan, ſagte neulich hieruͤber fol-
gende, ſeinem Verſtande und Herzen Ehre
machende Worte: “ehe ich wohlthaͤtig
ſein darf, muß ich erſt die Pflichten eines
ehrlichen Mannes erfuͤllen.„
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