Lerne Beleidigungen verschmerzen, ohne sie zu ahnden; Unrecht über dich ergehen zu lassen, ohne Genugthuung zu fodern. Denn so süß auch die Befriedigung der Rachbe- gierde ist, so schadet sie doch insgemein uns selbst am meisten. Oft ist es nüzlich, gar nicht ein- mahl merken zu lassen, daß man sich für beleidigt halte. -- Ein alter Weiser gibt über die Art, wie man Unrecht ertragen müsse, folgende goldne Vorschrift: "Jede Sache hat zwei Seiten; eine, an der sie sich tragen läßt, und die andere, an der sie sich nicht tragen läßt. Wenn dein Bruder ungerecht gegen dich handelt, so laß nicht diese Ungerechtigkeit die Seite sein, auf der du seine Handlung nimst: denn das würde grade diejenige Seite sein, auf der du ihre Last nicht tragen köntest. Laß vielmehr das Brudergefühl, und den Gedanken, mit ihm erzogen zu sein, lebhaft in dir werden, und du wirst die rechte Seite er- greifen, von der du die Last seines zugefügten Unrechts auf dich nehmen kanst."
Mißverständ-
Lerne Beleidigungen verſchmerzen, ohne ſie zu ahnden; Unrecht uͤber dich ergehen zu laſſen, ohne Genugthuung zu fodern. Denn ſo ſuͤß auch die Befriedigung der Rachbe- gierde iſt, ſo ſchadet ſie doch insgemein uns ſelbſt am meiſten. Oft iſt es nuͤzlich, gar nicht ein- mahl merken zu laſſen, daß man ſich fuͤr beleidigt halte. — Ein alter Weiſer gibt uͤber die Art, wie man Unrecht ertragen muͤſſe, folgende goldne Vorſchrift: “Jede Sache hat zwei Seiten; eine, an der ſie ſich tragen laͤßt, und die andere, an der ſie ſich nicht tragen laͤßt. Wenn dein Bruder ungerecht gegen dich handelt, ſo laß nicht dieſe Ungerechtigkeit die Seite ſein, auf der du ſeine Handlung nimſt: denn das wuͤrde grade diejenige Seite ſein, auf der du ihre Laſt nicht tragen koͤnteſt. Laß vielmehr das Brudergefuͤhl, und den Gedanken, mit ihm erzogen zu ſein, lebhaft in dir werden, und du wirſt die rechte Seite er- greifen, von der du die Laſt ſeines zugefuͤgten Unrechts auf dich nehmen kanſt.„
Mißverſtaͤnd-
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Lerne Beleidigungen verſchmerzen, ohne
ſie zu ahnden; Unrecht uͤber dich ergehen
zu laſſen, ohne Genugthuung zu fodern.
Denn ſo ſuͤß auch die Befriedigung der Rachbe-
gierde iſt, ſo ſchadet ſie doch insgemein uns ſelbſt
am meiſten. Oft iſt es nuͤzlich, gar nicht ein-
mahl merken zu laſſen, daß man ſich fuͤr beleidigt
halte. — Ein alter Weiſer gibt uͤber die Art,
wie man Unrecht ertragen muͤſſe, folgende goldne
Vorſchrift: “Jede Sache hat zwei Seiten; eine,
an der ſie ſich tragen laͤßt, und die andere, an
der ſie ſich nicht tragen laͤßt. Wenn dein Bruder
ungerecht gegen dich handelt, ſo laß nicht dieſe
Ungerechtigkeit die Seite ſein, auf der du ſeine
Handlung nimſt: denn das wuͤrde grade diejenige
Seite ſein, auf der du ihre Laſt nicht tragen
koͤnteſt. Laß vielmehr das Brudergefuͤhl, und
den Gedanken, mit ihm erzogen zu ſein, lebhaft
in dir werden, und du wirſt die rechte Seite er-
greifen, von der du die Laſt ſeines zugefuͤgten
Unrechts auf dich nehmen kanſt.„
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Campe, Joachim Heinrich: Theophron oder der erfahrne Rathgeber für die unerfahrne Jugend. Bd. 1. Hamburg, 1783, S. 240. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/campe_theophron01_1783/270>, abgerufen am 22.11.2024.
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