daß die Seele, auf den verschiedenen frühern Stufen ihres Wachsthums schon immerfort (eben nach ihrem innern ewigen Sein, in welchem die Zeiten eins sind) weiß von dieser Seeligkeit, aber, nicht klar und bestimmt, sondern dunkel und mehr ahnend, und daß sie deßhalb in ihren besondern Zuständen viele erfährt, die sie von weitem bereits für jene Seeligkeit selbst hält, von denen sie aber, wenn sie sie erreicht hat, immer noch gewahr wird, daß sie nur Schein¬ bilder derselben waren. (Dies ist etwas, worüber schon Dante in seinem Convito sehr merkwürdige Anschauungen niedergelegt hat, indem er den Entwicklungsgang des innern Menschen einem Pilger vergleicht, der das Ziel seiner Reise bald in Diesem, bald in Jenem zu erblicken glaubt, immer aber, wenn dahin gekommen, gewahr wird, daß das eigent¬ liche Ziel noch nicht erreicht war.) Wie tausendfältige merkwürdige Anwendungen dies auf die Geschichte der Seele leidet, läßt sich schon hier im Allgemeinen erkennen und wird noch im Verlaufe dieser Betrachtungen oftmals deut¬ licher hervortreten. Das Zweite ist, daß die Seele eigent¬ lich in ihrem tiefsten Innern nichts so gewiß weiß als die Richtung auf diesen höchsten ganz eigentlich seelischen Zu¬ stand, und daß sie deßhalb in ihrem tiefsten Grunde immer¬ fort eine nur bald dunklere bald hellere Wahrnehmung da¬ von hat, ob sie in gerader Richtung gegen dieses Ziel sich bewegt, oder ob sie davon abweicht und dieser Richtung entfremdet wird. Auch hier ist ein treffliches Wort in unserer Sprache zu Handen, welches dieses ursprüngliche Wissen -- dieses gewiß Wissen ganz scharf bezeichnet, nämlich wir nennen diese Eigenschaft der Seele das Gewissen, und diese Eigenschaft unserer Seele ist es, welche daher uns immer unterrichtet, in so fern wir dem tiefsten Wesen unsers Geistes zu horchen geeignet sind, ob wir wahrhaft auf dem Wege zur Seeligkeit uns befinden oder nicht.
Aus Dem was nun hier so eben ausgesagt worden ist, geht ferner unmittelbar hervor, wie ein der Seeligkeit
Carus, Psyche. 16
daß die Seele, auf den verſchiedenen frühern Stufen ihres Wachsthums ſchon immerfort (eben nach ihrem innern ewigen Sein, in welchem die Zeiten eins ſind) weiß von dieſer Seeligkeit, aber, nicht klar und beſtimmt, ſondern dunkel und mehr ahnend, und daß ſie deßhalb in ihren beſondern Zuſtänden viele erfährt, die ſie von weitem bereits für jene Seeligkeit ſelbſt hält, von denen ſie aber, wenn ſie ſie erreicht hat, immer noch gewahr wird, daß ſie nur Schein¬ bilder derſelben waren. (Dies iſt etwas, worüber ſchon Dante in ſeinem Convito ſehr merkwürdige Anſchauungen niedergelegt hat, indem er den Entwicklungsgang des innern Menſchen einem Pilger vergleicht, der das Ziel ſeiner Reiſe bald in Dieſem, bald in Jenem zu erblicken glaubt, immer aber, wenn dahin gekommen, gewahr wird, daß das eigent¬ liche Ziel noch nicht erreicht war.) Wie tauſendfältige merkwürdige Anwendungen dies auf die Geſchichte der Seele leidet, läßt ſich ſchon hier im Allgemeinen erkennen und wird noch im Verlaufe dieſer Betrachtungen oftmals deut¬ licher hervortreten. Das Zweite iſt, daß die Seele eigent¬ lich in ihrem tiefſten Innern nichts ſo gewiß weiß als die Richtung auf dieſen höchſten ganz eigentlich ſeeliſchen Zu¬ ſtand, und daß ſie deßhalb in ihrem tiefſten Grunde immer¬ fort eine nur bald dunklere bald hellere Wahrnehmung da¬ von hat, ob ſie in gerader Richtung gegen dieſes Ziel ſich bewegt, oder ob ſie davon abweicht und dieſer Richtung entfremdet wird. Auch hier iſt ein treffliches Wort in unſerer Sprache zu Handen, welches dieſes urſprüngliche Wiſſen — dieſes gewiß Wiſſen ganz ſcharf bezeichnet, nämlich wir nennen dieſe Eigenſchaft der Seele das Gewiſſen, und dieſe Eigenſchaft unſerer Seele iſt es, welche daher uns immer unterrichtet, in ſo fern wir dem tiefſten Weſen unſers Geiſtes zu horchen geeignet ſind, ob wir wahrhaft auf dem Wege zur Seeligkeit uns befinden oder nicht.
Aus Dem was nun hier ſo eben ausgeſagt worden iſt, geht ferner unmittelbar hervor, wie ein der Seeligkeit
Carus, Pſyche. 16
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daß die Seele, auf den verſchiedenen frühern Stufen ihres
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Sein, in welchem die Zeiten eins ſind) weiß von dieſer
Seeligkeit, aber, nicht klar und beſtimmt, ſondern dunkel
und mehr ahnend, und daß ſie deßhalb in ihren beſondern
Zuſtänden viele erfährt, die ſie von weitem bereits für
jene Seeligkeit ſelbſt hält, von denen ſie aber, wenn ſie ſie
erreicht hat, immer noch gewahr wird, daß ſie nur Schein¬
bilder derſelben waren. (Dies iſt etwas, worüber ſchon
Dante in ſeinem Convito ſehr merkwürdige Anſchauungen
niedergelegt hat, indem er den Entwicklungsgang des innern
Menſchen einem Pilger vergleicht, der das Ziel ſeiner Reiſe
bald in Dieſem, bald in Jenem zu erblicken glaubt, immer
aber, wenn dahin gekommen, gewahr wird, daß das eigent¬
liche Ziel noch nicht erreicht war.) Wie tauſendfältige
merkwürdige Anwendungen dies auf die Geſchichte der Seele
leidet, läßt ſich ſchon hier im Allgemeinen erkennen und
wird noch im Verlaufe dieſer Betrachtungen oftmals deut¬
licher hervortreten. Das Zweite iſt, daß die Seele eigent¬
lich in ihrem tiefſten Innern nichts ſo gewiß weiß als die
Richtung auf dieſen höchſten ganz eigentlich ſeeliſchen Zu¬
ſtand, und daß ſie deßhalb in ihrem tiefſten Grunde immer¬
fort eine nur bald dunklere bald hellere Wahrnehmung da¬
von hat, ob ſie in gerader Richtung gegen dieſes Ziel ſich
bewegt, oder ob ſie davon abweicht und dieſer Richtung
entfremdet wird. Auch hier iſt ein treffliches Wort in unſerer
Sprache zu Handen, welches dieſes urſprüngliche Wiſſen —
dieſes gewiß Wiſſen ganz ſcharf bezeichnet, nämlich wir
nennen dieſe Eigenſchaft der Seele das Gewiſſen, und
dieſe Eigenſchaft unſerer Seele iſt es, welche daher uns
immer unterrichtet, in ſo fern wir dem tiefſten Weſen unſers
Geiſtes zu horchen geeignet ſind, ob wir wahrhaft auf dem
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Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846, S. 241. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_psyche_1846/257>, abgerufen am 27.11.2024.
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