Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846.

Bild:
<< vorherige Seite

gesättigt sein, aber sie hat nicht das Vermögen dies dunkle
Erfühlen zu irgend einer Art wahrer Empfindung zu stei¬
gern, und kommt darum weder zum Gefühl des Angeneh¬
men der Sättigung noch zum Gefühl des Unangenehmen
des Durstes.

Man nimmt nun bei Betrachtungen dieser Art so¬
gleich wahr, daß es der Sprache eigentlich an einem Worte
fehlt, diese Art Regungen des unbewußten Seelenlebens
als solche treffend zu bezeichnen. Wir müssen die son¬
derbarsten Umschreibungen machen, wenn wir uns eini¬
germaßen darüber zum Verständniß bringen wollen, was
wir hiebei eigentlich meinen. Es ist auch sehr natürlich,
daß dergleichen Bezeichnungen erst spät in der Sprache ge¬
funden, oder vielmehr gebildet werden. Ich habe nämlich
schon oben darauf aufmerksam gemacht, daß die Erkenntniß
des Unbewußten im Bewußtsein überall das Letzte und
Höchste der Wissenschaft eben so sei, wie hinsichtlich des
Könnens die höchste Kunst nur da entsteht wenn das Kön¬
nen wieder unbewußt wird. Eben also weil nur erst bei
den feinsten und tiefsten Untersuchungen dieses Eindringen
des Bewußten ins Reich des unbewußten Daseins zur Auf¬
gabe wird, so tritt auch das Bedürfniß zu Wortbildungen
dieser Art erst spät in der Sprache hervor. Ich habe in
meinem System der Physiologie im Eingange des 3. Ban¬
des zuerst ausführlicher hierauf aufmerksam gemacht, und
dort vorgeschlagen (nachdem ich gezeigt hatte, wie bereits
Baco ein Bedürfniß dieser Sprachformen gefühlt hatte)
das Wort: "Erfühlung" -- perceptio -- zu brauchen
und so das unbewußte Empfinden der noch bloß im orga¬
nischen Bilden sich darlebenden Seele sprachlich zu bezeich¬
nen. Hat man sonach dieser Bezeichnung in physiologischen
und psychologischen Dingen einmal das Bürgerrecht ertheilt,
so wird man sich sogleich in allen Betrachtungen wahrhaft
gefördert finden. Die Erfühlung der Seele im Leben
des Blutgefäßsystems oder des Verdauungssystems ist also

geſättigt ſein, aber ſie hat nicht das Vermögen dies dunkle
Erfühlen zu irgend einer Art wahrer Empfindung zu ſtei¬
gern, und kommt darum weder zum Gefühl des Angeneh¬
men der Sättigung noch zum Gefühl des Unangenehmen
des Durſtes.

Man nimmt nun bei Betrachtungen dieſer Art ſo¬
gleich wahr, daß es der Sprache eigentlich an einem Worte
fehlt, dieſe Art Regungen des unbewußten Seelenlebens
als ſolche treffend zu bezeichnen. Wir müſſen die ſon¬
derbarſten Umſchreibungen machen, wenn wir uns eini¬
germaßen darüber zum Verſtändniß bringen wollen, was
wir hiebei eigentlich meinen. Es iſt auch ſehr natürlich,
daß dergleichen Bezeichnungen erſt ſpät in der Sprache ge¬
funden, oder vielmehr gebildet werden. Ich habe nämlich
ſchon oben darauf aufmerkſam gemacht, daß die Erkenntniß
des Unbewußten im Bewußtſein überall das Letzte und
Höchſte der Wiſſenſchaft eben ſo ſei, wie hinſichtlich des
Könnens die höchſte Kunſt nur da entſteht wenn das Kön¬
nen wieder unbewußt wird. Eben alſo weil nur erſt bei
den feinſten und tiefſten Unterſuchungen dieſes Eindringen
des Bewußten ins Reich des unbewußten Daſeins zur Auf¬
gabe wird, ſo tritt auch das Bedürfniß zu Wortbildungen
dieſer Art erſt ſpät in der Sprache hervor. Ich habe in
meinem Syſtem der Phyſiologie im Eingange des 3. Ban¬
des zuerſt ausführlicher hierauf aufmerkſam gemacht, und
dort vorgeſchlagen (nachdem ich gezeigt hatte, wie bereits
Baco ein Bedürfniß dieſer Sprachformen gefühlt hatte)
das Wort: „Erfühlung“ — perceptio — zu brauchen
und ſo das unbewußte Empfinden der noch bloß im orga¬
niſchen Bilden ſich darlebenden Seele ſprachlich zu bezeich¬
nen. Hat man ſonach dieſer Bezeichnung in phyſiologiſchen
und pſychologiſchen Dingen einmal das Bürgerrecht ertheilt,
ſo wird man ſich ſogleich in allen Betrachtungen wahrhaft
gefördert finden. Die Erfühlung der Seele im Leben
des Blutgefäßſyſtems oder des Verdauungsſyſtems iſt alſo

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0062" n="46"/>
ge&#x017F;ättigt &#x017F;ein, aber &#x017F;ie hat nicht das Vermögen dies dunkle<lb/>
Erfühlen zu irgend einer Art wahrer Empfindung zu &#x017F;tei¬<lb/>
gern, und kommt darum weder zum Gefühl des Angeneh¬<lb/>
men der Sättigung noch zum Gefühl des Unangenehmen<lb/>
des Dur&#x017F;tes.</p><lb/>
          <p>Man nimmt nun bei Betrachtungen die&#x017F;er Art &#x017F;<lb/>
gleich wahr, daß es der Sprache eigentlich an einem Worte<lb/>
fehlt, die&#x017F;e Art Regungen des unbewußten Seelenlebens<lb/>
als &#x017F;olche treffend zu bezeichnen. Wir mü&#x017F;&#x017F;en die &#x017F;on¬<lb/>
derbar&#x017F;ten Um&#x017F;chreibungen machen, wenn wir uns eini¬<lb/>
germaßen darüber zum Ver&#x017F;tändniß bringen wollen, was<lb/>
wir hiebei eigentlich meinen. Es i&#x017F;t auch &#x017F;ehr natürlich,<lb/>
daß dergleichen Bezeichnungen er&#x017F;t &#x017F;pät in der Sprache ge¬<lb/>
funden, oder vielmehr gebildet werden. Ich habe nämlich<lb/>
&#x017F;chon oben darauf aufmerk&#x017F;am gemacht, daß die Erkenntniß<lb/>
des Unbewußten im Bewußt&#x017F;ein überall das Letzte und<lb/>
Höch&#x017F;te der Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft eben &#x017F;o &#x017F;ei, wie hin&#x017F;ichtlich des<lb/>
Könnens die höch&#x017F;te Kun&#x017F;t nur da ent&#x017F;teht wenn das Kön¬<lb/>
nen wieder unbewußt wird. Eben al&#x017F;o weil nur er&#x017F;t bei<lb/>
den fein&#x017F;ten und tief&#x017F;ten Unter&#x017F;uchungen die&#x017F;es Eindringen<lb/>
des Bewußten ins Reich des unbewußten Da&#x017F;eins zur Auf¬<lb/>
gabe wird, &#x017F;o tritt auch das Bedürfniß zu Wortbildungen<lb/>
die&#x017F;er Art er&#x017F;t &#x017F;pät in der Sprache hervor. Ich habe in<lb/>
meinem Sy&#x017F;tem der Phy&#x017F;iologie im Eingange des 3. Ban¬<lb/>
des zuer&#x017F;t ausführlicher hierauf aufmerk&#x017F;am gemacht, und<lb/>
dort vorge&#x017F;chlagen (nachdem ich gezeigt hatte, wie bereits<lb/>
Baco ein Bedürfniß die&#x017F;er Sprachformen gefühlt hatte)<lb/>
das Wort: &#x201E;<hi rendition="#g">Erfühlung</hi>&#x201C; &#x2014; <hi rendition="#aq">perceptio</hi> &#x2014; zu brauchen<lb/>
und &#x017F;o das unbewußte Empfinden der noch bloß im orga¬<lb/>
ni&#x017F;chen Bilden &#x017F;ich darlebenden Seele &#x017F;prachlich zu bezeich¬<lb/>
nen. Hat man &#x017F;onach die&#x017F;er Bezeichnung in phy&#x017F;iologi&#x017F;chen<lb/>
und p&#x017F;ychologi&#x017F;chen Dingen einmal das Bürgerrecht ertheilt,<lb/>
&#x017F;o wird man &#x017F;ich &#x017F;ogleich in allen Betrachtungen wahrhaft<lb/>
gefördert finden. Die <hi rendition="#g">Erfühlung</hi> der Seele im Leben<lb/>
des Blutgefäß&#x017F;y&#x017F;tems oder des Verdauungs&#x017F;y&#x017F;tems i&#x017F;t al&#x017F;o<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[46/0062] geſättigt ſein, aber ſie hat nicht das Vermögen dies dunkle Erfühlen zu irgend einer Art wahrer Empfindung zu ſtei¬ gern, und kommt darum weder zum Gefühl des Angeneh¬ men der Sättigung noch zum Gefühl des Unangenehmen des Durſtes. Man nimmt nun bei Betrachtungen dieſer Art ſo¬ gleich wahr, daß es der Sprache eigentlich an einem Worte fehlt, dieſe Art Regungen des unbewußten Seelenlebens als ſolche treffend zu bezeichnen. Wir müſſen die ſon¬ derbarſten Umſchreibungen machen, wenn wir uns eini¬ germaßen darüber zum Verſtändniß bringen wollen, was wir hiebei eigentlich meinen. Es iſt auch ſehr natürlich, daß dergleichen Bezeichnungen erſt ſpät in der Sprache ge¬ funden, oder vielmehr gebildet werden. Ich habe nämlich ſchon oben darauf aufmerkſam gemacht, daß die Erkenntniß des Unbewußten im Bewußtſein überall das Letzte und Höchſte der Wiſſenſchaft eben ſo ſei, wie hinſichtlich des Könnens die höchſte Kunſt nur da entſteht wenn das Kön¬ nen wieder unbewußt wird. Eben alſo weil nur erſt bei den feinſten und tiefſten Unterſuchungen dieſes Eindringen des Bewußten ins Reich des unbewußten Daſeins zur Auf¬ gabe wird, ſo tritt auch das Bedürfniß zu Wortbildungen dieſer Art erſt ſpät in der Sprache hervor. Ich habe in meinem Syſtem der Phyſiologie im Eingange des 3. Ban¬ des zuerſt ausführlicher hierauf aufmerkſam gemacht, und dort vorgeſchlagen (nachdem ich gezeigt hatte, wie bereits Baco ein Bedürfniß dieſer Sprachformen gefühlt hatte) das Wort: „Erfühlung“ — perceptio — zu brauchen und ſo das unbewußte Empfinden der noch bloß im orga¬ niſchen Bilden ſich darlebenden Seele ſprachlich zu bezeich¬ nen. Hat man ſonach dieſer Bezeichnung in phyſiologiſchen und pſychologiſchen Dingen einmal das Bürgerrecht ertheilt, ſo wird man ſich ſogleich in allen Betrachtungen wahrhaft gefördert finden. Die Erfühlung der Seele im Leben des Blutgefäßſyſtems oder des Verdauungsſyſtems iſt alſo

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/carus_psyche_1846
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/carus_psyche_1846/62
Zitationshilfe: Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846, S. 46. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_psyche_1846/62>, abgerufen am 23.11.2024.