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Carus, Julius Victor: Geschichte der Zoologie bis auf Johannes Müller und Charles Darwin. München, 1872.

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Zoologische Kenntnisse des Alterthums.
lichen Zeitrechnung in ihrer Muttersprache zu schreiben begannen. Von
andern Erscheinungen dieser Art ist nur die Arbeit des Gothen Ulfilas
noch erhalten.

Bieten nun diese natürlich hier nur in den allgemeinsten Umrissen
angedeuteten staatlichen Verschiebungen schon Momente genug dar, die
durchgreifenden Umgestaltungen im wissenschaftlichen Leben der Völker
zu erklären, so wird auch deutlich, daß die Veränderungen in den so-
cialen Verhältnissen und vor Allem in der Cultur der Einzelnen wie
des Volkes, welche zur Zeit des sinkenden Römerreichs eintraten, völlig
hinreichten, eine weitere Entwickelung der Wissenschaft in dieser Zeit
unmöglich zu machen. Es wurde schon des Unterschiedes zwischen dem
griechischen und römischen Volksleben rücksichtlich der geistigen Stellung
gedacht. Noch schlimmer machte sich derselbe in seinen Folgen geltend,
als mit der gesteigerten Bedeutung des römischen Heeres die Legionen
den Mittelstand aufzehrten, so daß neben einer überreichen und deshalb
häufig von oben her in ihrer Sicherheit gefährdeten Aristokratie nur
ein Proletariat bestand, was von Almosen unter der entsittlichenden
Form staatlicher Geldvertheilung lebte. Dem Handwerk und der Arbeit
fehlte die Anerkennung der Ehrenhaftigkeit, dem Handel der ihn zu allen
Zeiten über die Natur engherziger Krämerei hebende geistige Sporn.

Gleich trübe Bilder bietet ein Blick auf die geistige Entwickelung.
Dem Griechen war die menschliche Gestalt die begreiflichste. Das Wesen
einer Naturerscheinung, die er ihrem wirklichen Gehalte nach nicht
erkannte, wurde ihm auch erst nach und durch Verdichtung zur mensch-
lichen Gestalt begreiflich. Daher rührte der psychologische Gehalt seiner
anthropomorphen Naturreligion. Dem Römer waren die Gottheiten
an und für sich mehr zufällige Personificationen bestimmter, häufig
historischer Ereignisse. Als nach dem Bekanntwerden mit griechischen
Geisteserzeugnissen eine formale griechische Bildung Mode wurde, trat
auch in den religiösen Vorstellungen eine Mischung ein, welche sich
nach Berührung mit asiatischen Cultusformen zu einem förmlichen
Religionsmosaik steigerte. Während im frühen Alterthum die Bildung
wesentlich von dem mythologischen Ideenkreise geleitet und getragen

Zoologiſche Kenntniſſe des Alterthums.
lichen Zeitrechnung in ihrer Mutterſprache zu ſchreiben begannen. Von
andern Erſcheinungen dieſer Art iſt nur die Arbeit des Gothen Ulfilas
noch erhalten.

Bieten nun dieſe natürlich hier nur in den allgemeinſten Umriſſen
angedeuteten ſtaatlichen Verſchiebungen ſchon Momente genug dar, die
durchgreifenden Umgeſtaltungen im wiſſenſchaftlichen Leben der Völker
zu erklären, ſo wird auch deutlich, daß die Veränderungen in den ſo-
cialen Verhältniſſen und vor Allem in der Cultur der Einzelnen wie
des Volkes, welche zur Zeit des ſinkenden Römerreichs eintraten, völlig
hinreichten, eine weitere Entwickelung der Wiſſenſchaft in dieſer Zeit
unmöglich zu machen. Es wurde ſchon des Unterſchiedes zwiſchen dem
griechiſchen und römiſchen Volksleben rückſichtlich der geiſtigen Stellung
gedacht. Noch ſchlimmer machte ſich derſelbe in ſeinen Folgen geltend,
als mit der geſteigerten Bedeutung des römiſchen Heeres die Legionen
den Mittelſtand aufzehrten, ſo daß neben einer überreichen und deshalb
häufig von oben her in ihrer Sicherheit gefährdeten Ariſtokratie nur
ein Proletariat beſtand, was von Almoſen unter der entſittlichenden
Form ſtaatlicher Geldvertheilung lebte. Dem Handwerk und der Arbeit
fehlte die Anerkennung der Ehrenhaftigkeit, dem Handel der ihn zu allen
Zeiten über die Natur engherziger Krämerei hebende geiſtige Sporn.

Gleich trübe Bilder bietet ein Blick auf die geiſtige Entwickelung.
Dem Griechen war die menſchliche Geſtalt die begreiflichſte. Das Weſen
einer Naturerſcheinung, die er ihrem wirklichen Gehalte nach nicht
erkannte, wurde ihm auch erſt nach und durch Verdichtung zur menſch-
lichen Geſtalt begreiflich. Daher rührte der pſychologiſche Gehalt ſeiner
anthropomorphen Naturreligion. Dem Römer waren die Gottheiten
an und für ſich mehr zufällige Perſonificationen beſtimmter, häufig
hiſtoriſcher Ereigniſſe. Als nach dem Bekanntwerden mit griechiſchen
Geiſteserzeugniſſen eine formale griechiſche Bildung Mode wurde, trat
auch in den religiöſen Vorſtellungen eine Miſchung ein, welche ſich
nach Berührung mit aſiatiſchen Cultusformen zu einem förmlichen
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[92/0103] Zoologiſche Kenntniſſe des Alterthums. lichen Zeitrechnung in ihrer Mutterſprache zu ſchreiben begannen. Von andern Erſcheinungen dieſer Art iſt nur die Arbeit des Gothen Ulfilas noch erhalten. Bieten nun dieſe natürlich hier nur in den allgemeinſten Umriſſen angedeuteten ſtaatlichen Verſchiebungen ſchon Momente genug dar, die durchgreifenden Umgeſtaltungen im wiſſenſchaftlichen Leben der Völker zu erklären, ſo wird auch deutlich, daß die Veränderungen in den ſo- cialen Verhältniſſen und vor Allem in der Cultur der Einzelnen wie des Volkes, welche zur Zeit des ſinkenden Römerreichs eintraten, völlig hinreichten, eine weitere Entwickelung der Wiſſenſchaft in dieſer Zeit unmöglich zu machen. Es wurde ſchon des Unterſchiedes zwiſchen dem griechiſchen und römiſchen Volksleben rückſichtlich der geiſtigen Stellung gedacht. Noch ſchlimmer machte ſich derſelbe in ſeinen Folgen geltend, als mit der geſteigerten Bedeutung des römiſchen Heeres die Legionen den Mittelſtand aufzehrten, ſo daß neben einer überreichen und deshalb häufig von oben her in ihrer Sicherheit gefährdeten Ariſtokratie nur ein Proletariat beſtand, was von Almoſen unter der entſittlichenden Form ſtaatlicher Geldvertheilung lebte. Dem Handwerk und der Arbeit fehlte die Anerkennung der Ehrenhaftigkeit, dem Handel der ihn zu allen Zeiten über die Natur engherziger Krämerei hebende geiſtige Sporn. Gleich trübe Bilder bietet ein Blick auf die geiſtige Entwickelung. Dem Griechen war die menſchliche Geſtalt die begreiflichſte. Das Weſen einer Naturerſcheinung, die er ihrem wirklichen Gehalte nach nicht erkannte, wurde ihm auch erſt nach und durch Verdichtung zur menſch- lichen Geſtalt begreiflich. Daher rührte der pſychologiſche Gehalt ſeiner anthropomorphen Naturreligion. Dem Römer waren die Gottheiten an und für ſich mehr zufällige Perſonificationen beſtimmter, häufig hiſtoriſcher Ereigniſſe. Als nach dem Bekanntwerden mit griechiſchen Geiſteserzeugniſſen eine formale griechiſche Bildung Mode wurde, trat auch in den religiöſen Vorſtellungen eine Miſchung ein, welche ſich nach Berührung mit aſiatiſchen Cultusformen zu einem förmlichen Religionsmoſaik ſteigerte. Während im frühen Alterthum die Bildung weſentlich von dem mythologiſchen Ideenkreiſe geleitet und getragen

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Zitationshilfe: Carus, Julius Victor: Geschichte der Zoologie bis auf Johannes Müller und Charles Darwin. München, 1872, S. 92. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_zoologie_1872/103>, abgerufen am 17.05.2024.