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Carus, Julius Victor: Geschichte der Zoologie bis auf Johannes Müller und Charles Darwin. München, 1872.

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Ausgang des Alterthums.
wurde, schwand nun die geistige Vertiefung unter dem Formalismus
der Bildung und den Einflüssen eines nur den Augenblick befriedigen-
den Aberglaubens. Wenn nun auch die Mysterien neben der viel-
leicht von ihnen ausgehenden Belebung des Nationalgefühls gegenüber
dem zum Kosmopolitismus verflachenden römischen Staatsbürgerthum
eine Zeitlang auf Hebung eines sittlichen Gefühls wirken konnten, so
verfehlten doch auch sie ihren Einfluß, als die reine Gestalt der mensch-
lich in ihnen erscheinenden und wirkenden Götter verloren gieng und
Dämonen Platz machte. Jede Form von Aberglauben ist ja mit dem
Begriff eines geordneten Verlaufes der Naturerscheinungen unverein-
bar. Wer den ganzen Olymp als Gebilde des Aberglaubens betrachten
will, wird ihm wenigstens die menschliche Form lassen, in welche sich
das Geständniß der Unwissenheit kleidete. Aber schon zur alexandrini-
schen Zeit treten verdächtige Zeichen auf, von denen nur an die Stern-
deuterei, an die Incubation und ähnliches erinnert werden mag. Daß
sich allen diesen Erscheinungen gegenüber diejenigen, welche noch auf
geistige Erhebung Anspruch machen zu können glaubten, dem Volks-
glauben entfremden mußten, wird durch die Formlosigkeit desselben ver-
ständlich. Ein Cultus der Natur, welcher nun dem weder im Volks-
glauben Erhebung noch in philosophischer Aufklärung Befriedigung
Findenden für beides hätte Ersatz bieten können, war nicht mehr mög-
lich: die Natur war dem Menschen fremd und unheimlich geworden.

Für die Weiterentwickelung der Naturwissenschaften war es von
tiefgreifendster Wirkung, daß auch das sich nun ausbreitende Christen-
thum diese Entfremdung nicht hob. Im Gegentheil, es mußte die
Menschheit sich geraume Zeit erst an die neue Denkweise gewöhnen,
um mit ihr nach Ueberwindung des ursprünglich schroffen Gegensatzes
auch eine vernünftige Naturbetrachtung vereinen zu können. Die ganze
geistige Kraft des Alterthums wurzelte in der religiösen Uranschauung
vom Wesen der Natur. "An diese Wurzel legte das Christenthum die
Hand". Es hob den religiösen Glauben an die Natur, die Grundan-
schauung vom Wesen derselben auf, und "verdrängte ihn durch einen
neuen Glauben, durch eine neue Anschauungsweise, die den alten

Ausgang des Alterthums.
wurde, ſchwand nun die geiſtige Vertiefung unter dem Formalismus
der Bildung und den Einflüſſen eines nur den Augenblick befriedigen-
den Aberglaubens. Wenn nun auch die Myſterien neben der viel-
leicht von ihnen ausgehenden Belebung des Nationalgefühls gegenüber
dem zum Kosmopolitismus verflachenden römiſchen Staatsbürgerthum
eine Zeitlang auf Hebung eines ſittlichen Gefühls wirken konnten, ſo
verfehlten doch auch ſie ihren Einfluß, als die reine Geſtalt der menſch-
lich in ihnen erſcheinenden und wirkenden Götter verloren gieng und
Dämonen Platz machte. Jede Form von Aberglauben iſt ja mit dem
Begriff eines geordneten Verlaufes der Naturerſcheinungen unverein-
bar. Wer den ganzen Olymp als Gebilde des Aberglaubens betrachten
will, wird ihm wenigſtens die menſchliche Form laſſen, in welche ſich
das Geſtändniß der Unwiſſenheit kleidete. Aber ſchon zur alexandrini-
ſchen Zeit treten verdächtige Zeichen auf, von denen nur an die Stern-
deuterei, an die Incubation und ähnliches erinnert werden mag. Daß
ſich allen dieſen Erſcheinungen gegenüber diejenigen, welche noch auf
geiſtige Erhebung Anſpruch machen zu können glaubten, dem Volks-
glauben entfremden mußten, wird durch die Formloſigkeit deſſelben ver-
ſtändlich. Ein Cultus der Natur, welcher nun dem weder im Volks-
glauben Erhebung noch in philoſophiſcher Aufklärung Befriedigung
Findenden für beides hätte Erſatz bieten können, war nicht mehr mög-
lich: die Natur war dem Menſchen fremd und unheimlich geworden.

Für die Weiterentwickelung der Naturwiſſenſchaften war es von
tiefgreifendſter Wirkung, daß auch das ſich nun ausbreitende Chriſten-
thum dieſe Entfremdung nicht hob. Im Gegentheil, es mußte die
Menſchheit ſich geraume Zeit erſt an die neue Denkweiſe gewöhnen,
um mit ihr nach Ueberwindung des urſprünglich ſchroffen Gegenſatzes
auch eine vernünftige Naturbetrachtung vereinen zu können. Die ganze
geiſtige Kraft des Alterthums wurzelte in der religiöſen Uranſchauung
vom Weſen der Natur. „An dieſe Wurzel legte das Chriſtenthum die
Hand“. Es hob den religiöſen Glauben an die Natur, die Grundan-
ſchauung vom Weſen derſelben auf, und „verdrängte ihn durch einen
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[93/0104] Ausgang des Alterthums. wurde, ſchwand nun die geiſtige Vertiefung unter dem Formalismus der Bildung und den Einflüſſen eines nur den Augenblick befriedigen- den Aberglaubens. Wenn nun auch die Myſterien neben der viel- leicht von ihnen ausgehenden Belebung des Nationalgefühls gegenüber dem zum Kosmopolitismus verflachenden römiſchen Staatsbürgerthum eine Zeitlang auf Hebung eines ſittlichen Gefühls wirken konnten, ſo verfehlten doch auch ſie ihren Einfluß, als die reine Geſtalt der menſch- lich in ihnen erſcheinenden und wirkenden Götter verloren gieng und Dämonen Platz machte. Jede Form von Aberglauben iſt ja mit dem Begriff eines geordneten Verlaufes der Naturerſcheinungen unverein- bar. Wer den ganzen Olymp als Gebilde des Aberglaubens betrachten will, wird ihm wenigſtens die menſchliche Form laſſen, in welche ſich das Geſtändniß der Unwiſſenheit kleidete. Aber ſchon zur alexandrini- ſchen Zeit treten verdächtige Zeichen auf, von denen nur an die Stern- deuterei, an die Incubation und ähnliches erinnert werden mag. Daß ſich allen dieſen Erſcheinungen gegenüber diejenigen, welche noch auf geiſtige Erhebung Anſpruch machen zu können glaubten, dem Volks- glauben entfremden mußten, wird durch die Formloſigkeit deſſelben ver- ſtändlich. Ein Cultus der Natur, welcher nun dem weder im Volks- glauben Erhebung noch in philoſophiſcher Aufklärung Befriedigung Findenden für beides hätte Erſatz bieten können, war nicht mehr mög- lich: die Natur war dem Menſchen fremd und unheimlich geworden. Für die Weiterentwickelung der Naturwiſſenſchaften war es von tiefgreifendſter Wirkung, daß auch das ſich nun ausbreitende Chriſten- thum dieſe Entfremdung nicht hob. Im Gegentheil, es mußte die Menſchheit ſich geraume Zeit erſt an die neue Denkweiſe gewöhnen, um mit ihr nach Ueberwindung des urſprünglich ſchroffen Gegenſatzes auch eine vernünftige Naturbetrachtung vereinen zu können. Die ganze geiſtige Kraft des Alterthums wurzelte in der religiöſen Uranſchauung vom Weſen der Natur. „An dieſe Wurzel legte das Chriſtenthum die Hand“. Es hob den religiöſen Glauben an die Natur, die Grundan- ſchauung vom Weſen derſelben auf, und „verdrängte ihn durch einen neuen Glauben, durch eine neue Anſchauungsweiſe, die den alten

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Zitationshilfe: Carus, Julius Victor: Geschichte der Zoologie bis auf Johannes Müller und Charles Darwin. München, 1872, S. 93. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_zoologie_1872/104>, abgerufen am 17.05.2024.