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Carus, Julius Victor: Geschichte der Zoologie bis auf Johannes Müller und Charles Darwin. München, 1872.

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Die Zoologie des Mittelalters.
sagen, daß sich das unvollkommene nur aus dem Vollkommenen ver-
stehen lasse219), so lag gerade hierin das Haupthinderniß einer natür-
lichen Betrachtung, welche, die Vollkommenheit bei Seite lassend, nach
Einfachem und Zusammengesetztem zu fragen hat. Albert kam aber bei
seinen allgemeinen vergleichend-anatomischen Betrachtungen gar nicht
zu dieser Frage. Seine Ansichten gehen hier nicht über Aristoteles hin-
aus und wo er selbständige "Digressionen" hinzufügt, sind es Specula-
tionen ganz allgemein philosophischer Art, wie z. B. die weitläufige
Untersuchung der Frage, ob außer den vier Elementen auch noch das
fünfte Princip, für welches er das Licht ansieht, in die Zusammen-
setzung der thierischen Körper eingehe. Einigemal kommen allerdings
Berufungen auf eigene Beobachtungen vor; diese sind aber ziemlich be-
denklicher Art. So zählt er z. B. beim Hirsch in jeder Kinnlade (d. h.
oben und unten) vier Zähne und außerdem noch unten vier andere.
Die Froschzunge soll am Gaumen angewachsen sein; und weil deshalb
der Athem nicht gerade eingehen könne, treibe die Luft am Halse die
beiden Blasen auf. Die Fliege hat zwei Flügel, aber acht Beine. Sein
Verhalten derartigen elementaren Thatsachen gegenüber spricht wenig
für eine exacte Erfassung eines durch einfache Beobachtung zu ermit-
telnden Thatbestandes. Auch von Verallgemeinerungen fruchtbarer Art
ist bei ihm außer aristotelischen Angaben nichts zu finden. Es ist un-
begreiflich, wie Pouchet ihm eine Ahnung von der Wirbelzusammen-
setzung des Schädels zuschreiben kann220). Albert sagt an der von
Pouchet hierfür angezogenen Stelle nur221), daß gewisse Theile des
Gesichts bewegt werden. Diese nennt er nun allerdings Glieder, aber

219) Cum imperfectum sciri non possit nisi per rationem
perfecti etc.
-- Ratio autem perfectionis animalis secundum animae vires quaerenda est.
Lib. XXI. ed. Jammy, T. VI. p. 562.
220) Pouchet, Hist. des sciences naturelles au moyen age ou Albert
le Grand etc. Paris, 1853. p. 271.
221) Opera, ed. Jammy. T. VI. p. 45. Videmus autem moveri in facie
septem membra universaliter ab omnibus et a quibusdam octo: quae sunt
frons, oculi, palpebrae superiores et maxilla in communitate labiorum et
labia sine maxillis et duae inferiores narium extremitates. Movetur autem et
mandibula inferior forti motu.

Die Zoologie des Mittelalters.
ſagen, daß ſich das unvollkommene nur aus dem Vollkommenen ver-
ſtehen laſſe219), ſo lag gerade hierin das Haupthinderniß einer natür-
lichen Betrachtung, welche, die Vollkommenheit bei Seite laſſend, nach
Einfachem und Zuſammengeſetztem zu fragen hat. Albert kam aber bei
ſeinen allgemeinen vergleichend-anatomiſchen Betrachtungen gar nicht
zu dieſer Frage. Seine Anſichten gehen hier nicht über Ariſtoteles hin-
aus und wo er ſelbſtändige „Digreſſionen“ hinzufügt, ſind es Specula-
tionen ganz allgemein philoſophiſcher Art, wie z. B. die weitläufige
Unterſuchung der Frage, ob außer den vier Elementen auch noch das
fünfte Princip, für welches er das Licht anſieht, in die Zuſammen-
ſetzung der thieriſchen Körper eingehe. Einigemal kommen allerdings
Berufungen auf eigene Beobachtungen vor; dieſe ſind aber ziemlich be-
denklicher Art. So zählt er z. B. beim Hirſch in jeder Kinnlade (d. h.
oben und unten) vier Zähne und außerdem noch unten vier andere.
Die Froſchzunge ſoll am Gaumen angewachſen ſein; und weil deshalb
der Athem nicht gerade eingehen könne, treibe die Luft am Halſe die
beiden Blaſen auf. Die Fliege hat zwei Flügel, aber acht Beine. Sein
Verhalten derartigen elementaren Thatſachen gegenüber ſpricht wenig
für eine exacte Erfaſſung eines durch einfache Beobachtung zu ermit-
telnden Thatbeſtandes. Auch von Verallgemeinerungen fruchtbarer Art
iſt bei ihm außer ariſtoteliſchen Angaben nichts zu finden. Es iſt un-
begreiflich, wie Pouchet ihm eine Ahnung von der Wirbelzuſammen-
ſetzung des Schädels zuſchreiben kann220). Albert ſagt an der von
Pouchet hierfür angezogenen Stelle nur221), daß gewiſſe Theile des
Geſichts bewegt werden. Dieſe nennt er nun allerdings Glieder, aber

219) Cum imperfectum sciri non possit nisi per rationem
perfecti etc.
— Ratio autem perfectionis animalis secundum animae vires quaerenda est.
Lib. XXI. ed. Jammy, T. VI. p. 562.
220) Pouchet, Hist. des sciences naturelles au moyen âge ou Albert
le Grand etc. Paris, 1853. p. 271.
221) Opera, ed. Jammy. T. VI. p. 45. Videmus autem moveri in facie
septem membra universaliter ab omnibus et a quibusdam octo: quae sunt
frons, oculi, palpebrae superiores et maxilla in communitate labiorum et
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mandibula inferior forti motu.
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[230/0241] Die Zoologie des Mittelalters. ſagen, daß ſich das unvollkommene nur aus dem Vollkommenen ver- ſtehen laſſe 219), ſo lag gerade hierin das Haupthinderniß einer natür- lichen Betrachtung, welche, die Vollkommenheit bei Seite laſſend, nach Einfachem und Zuſammengeſetztem zu fragen hat. Albert kam aber bei ſeinen allgemeinen vergleichend-anatomiſchen Betrachtungen gar nicht zu dieſer Frage. Seine Anſichten gehen hier nicht über Ariſtoteles hin- aus und wo er ſelbſtändige „Digreſſionen“ hinzufügt, ſind es Specula- tionen ganz allgemein philoſophiſcher Art, wie z. B. die weitläufige Unterſuchung der Frage, ob außer den vier Elementen auch noch das fünfte Princip, für welches er das Licht anſieht, in die Zuſammen- ſetzung der thieriſchen Körper eingehe. Einigemal kommen allerdings Berufungen auf eigene Beobachtungen vor; dieſe ſind aber ziemlich be- denklicher Art. So zählt er z. B. beim Hirſch in jeder Kinnlade (d. h. oben und unten) vier Zähne und außerdem noch unten vier andere. Die Froſchzunge ſoll am Gaumen angewachſen ſein; und weil deshalb der Athem nicht gerade eingehen könne, treibe die Luft am Halſe die beiden Blaſen auf. Die Fliege hat zwei Flügel, aber acht Beine. Sein Verhalten derartigen elementaren Thatſachen gegenüber ſpricht wenig für eine exacte Erfaſſung eines durch einfache Beobachtung zu ermit- telnden Thatbeſtandes. Auch von Verallgemeinerungen fruchtbarer Art iſt bei ihm außer ariſtoteliſchen Angaben nichts zu finden. Es iſt un- begreiflich, wie Pouchet ihm eine Ahnung von der Wirbelzuſammen- ſetzung des Schädels zuſchreiben kann 220). Albert ſagt an der von Pouchet hierfür angezogenen Stelle nur 221), daß gewiſſe Theile des Geſichts bewegt werden. Dieſe nennt er nun allerdings Glieder, aber 219) Cum imperfectum sciri non possit nisi per rationem perfecti etc. — Ratio autem perfectionis animalis secundum animae vires quaerenda est. Lib. XXI. ed. Jammy, T. VI. p. 562. 220) Pouchet, Hist. des sciences naturelles au moyen âge ou Albert le Grand etc. Paris, 1853. p. 271. 221) Opera, ed. Jammy. T. VI. p. 45. Videmus autem moveri in facie septem membra universaliter ab omnibus et a quibusdam octo: quae sunt frons, oculi, palpebrae superiores et maxilla in communitate labiorum et labia sine maxillis et duae inferiores narium extremitates. Movetur autem et mandibula inferior forti motu.

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Zitationshilfe: Carus, Julius Victor: Geschichte der Zoologie bis auf Johannes Müller und Charles Darwin. München, 1872, S. 230. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_zoologie_1872/241>, abgerufen am 23.11.2024.