Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Carus, Julius Victor: Geschichte der Zoologie bis auf Johannes Müller und Charles Darwin. München, 1872.

Bild:
<< vorherige Seite

Periode der Systematik.
entstammten einer Vermischung der weißen Menschen mit den Affen.
Dadurch gelangten die höheren Affen zu der Stellung von Mittelwesen
zwischen Mensch und Thier. Dies Vorurtheil zu bekämpfen führte
Peter Camper die Anatomie des Orang-Utang aus und wies nicht
bloß die selbständige thierische Stellung desselben nach, sondern hob auch
weitere charakteristische Unterschiede zwischen ihm und dem Menschen
hervor. Unter diesen erscheint der nach ihm benannte Gesichtswinkel,
die erste Anwendung der Messung auf Schädel, welche er später in
seiner Schrift über die Verschiedenheit der Gesichtszüge der Menschen
weiter verfolgte. Den Standpunkt der Naturgeschichte des Menschen
vom Ende des vorigen Jahrhunderts gibt übersichtlich und mit reichen
Litteraturbelegen Christ. Friedr. Ludwig in seinem Grundrisse (1795)
wieder.

Die Systematik der Säugethiere, von denen nun die Walthiere
nicht wieder getrennt werden, erfuhr von mehreren Seiten eine neue
Bearbeitung, ohne jedoch von tiefer eingehender Kenntniß überall geleitet
zu werden. Die Linne'sche Anordnung, welche an erster Stelle die
Zähne berücksichtigt hatte, suchte zunächst Brisson zu verbessern; er
führte indessen durch starres Festhalten an Merkmalen, welche nur von
Zahl und Vorkommen der Zähne und der Form der Gliedmaßen her-
genommen waren, das Unnatürliche und Gezwungene einer künstlichen
Gruppirung vor Augen. Vom Jahre 1775 an ließ Joh. Christ. Dan.
Schreber
(geb. 1739, starb als Professor in Erlangen 1810) die
ersten Hefte seines großen Säugethierwerks erscheinen, welches erst
1824 vollendet wurde. Nach der Art Buffon's legte er das größte
Gewicht auf sorgfältige ausführliche Beschreibung und Abbildung der
einzelnen Formen, ohne deren gesammte Anordnung eingehend umzu-
gestalten. Thomas Pennant wollte zwar (zuerst 1771, dann 1781)
den ganzen, die Verwandtschaft bekundenden Gesammtcharakter der
Arten zunächst in Betracht ziehn; seine Anordnung wird aber doch auch
eine künstliche, da er zu streng die Form der Füße bei der Bildung der
Hauptgruppen, in zweiter Reihe die Zähne und andere Merkmale be-
rücksichtigt. Doch ist Pennant zu Gunsten der natürlichen Verwandt-
schaft von seinem Schema häufig mit vollem Rechte abgewichen, so daß

Periode der Syſtematik.
entſtammten einer Vermiſchung der weißen Menſchen mit den Affen.
Dadurch gelangten die höheren Affen zu der Stellung von Mittelweſen
zwiſchen Menſch und Thier. Dies Vorurtheil zu bekämpfen führte
Peter Camper die Anatomie des Orang-Utang aus und wies nicht
bloß die ſelbſtändige thieriſche Stellung deſſelben nach, ſondern hob auch
weitere charakteriſtiſche Unterſchiede zwiſchen ihm und dem Menſchen
hervor. Unter dieſen erſcheint der nach ihm benannte Geſichtswinkel,
die erſte Anwendung der Meſſung auf Schädel, welche er ſpäter in
ſeiner Schrift über die Verſchiedenheit der Geſichtszüge der Menſchen
weiter verfolgte. Den Standpunkt der Naturgeſchichte des Menſchen
vom Ende des vorigen Jahrhunderts gibt überſichtlich und mit reichen
Litteraturbelegen Chriſt. Friedr. Ludwig in ſeinem Grundriſſe (1795)
wieder.

Die Syſtematik der Säugethiere, von denen nun die Walthiere
nicht wieder getrennt werden, erfuhr von mehreren Seiten eine neue
Bearbeitung, ohne jedoch von tiefer eingehender Kenntniß überall geleitet
zu werden. Die Linné'ſche Anordnung, welche an erſter Stelle die
Zähne berückſichtigt hatte, ſuchte zunächſt Briſſon zu verbeſſern; er
führte indeſſen durch ſtarres Feſthalten an Merkmalen, welche nur von
Zahl und Vorkommen der Zähne und der Form der Gliedmaßen her-
genommen waren, das Unnatürliche und Gezwungene einer künſtlichen
Gruppirung vor Augen. Vom Jahre 1775 an ließ Joh. Chriſt. Dan.
Schreber
(geb. 1739, ſtarb als Profeſſor in Erlangen 1810) die
erſten Hefte ſeines großen Säugethierwerks erſcheinen, welches erſt
1824 vollendet wurde. Nach der Art Buffon's legte er das größte
Gewicht auf ſorgfältige ausführliche Beſchreibung und Abbildung der
einzelnen Formen, ohne deren geſammte Anordnung eingehend umzu-
geſtalten. Thomas Pennant wollte zwar (zuerſt 1771, dann 1781)
den ganzen, die Verwandtſchaft bekundenden Geſammtcharakter der
Arten zunächſt in Betracht ziehn; ſeine Anordnung wird aber doch auch
eine künſtliche, da er zu ſtreng die Form der Füße bei der Bildung der
Hauptgruppen, in zweiter Reihe die Zähne und andere Merkmale be-
rückſichtigt. Doch iſt Pennant zu Gunſten der natürlichen Verwandt-
ſchaft von ſeinem Schema häufig mit vollem Rechte abgewichen, ſo daß

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0557" n="546"/><fw place="top" type="header">Periode der Sy&#x017F;tematik.</fw><lb/>
ent&#x017F;tammten einer Vermi&#x017F;chung der weißen Men&#x017F;chen mit den Affen.<lb/>
Dadurch gelangten die höheren Affen zu der Stellung von Mittelwe&#x017F;en<lb/>
zwi&#x017F;chen Men&#x017F;ch und Thier. Dies Vorurtheil zu bekämpfen führte<lb/><hi rendition="#g"><persName ref="http://d-nb.info/gnd/119291827">Peter Camper</persName></hi> die Anatomie des Orang-Utang aus und wies nicht<lb/>
bloß die &#x017F;elb&#x017F;tändige thieri&#x017F;che Stellung de&#x017F;&#x017F;elben nach, &#x017F;ondern hob auch<lb/>
weitere charakteri&#x017F;ti&#x017F;che Unter&#x017F;chiede zwi&#x017F;chen ihm und dem Men&#x017F;chen<lb/>
hervor. Unter die&#x017F;en er&#x017F;cheint der nach ihm benannte Ge&#x017F;ichtswinkel,<lb/>
die er&#x017F;te Anwendung der Me&#x017F;&#x017F;ung auf Schädel, welche er &#x017F;päter in<lb/>
&#x017F;einer Schrift über die Ver&#x017F;chiedenheit der Ge&#x017F;ichtszüge der Men&#x017F;chen<lb/>
weiter verfolgte. Den Standpunkt der Naturge&#x017F;chichte des Men&#x017F;chen<lb/>
vom Ende des vorigen Jahrhunderts gibt über&#x017F;ichtlich und mit reichen<lb/>
Litteraturbelegen <persName ref="http://d-nb.info/gnd/119341239">Chri&#x017F;t. Friedr. <hi rendition="#g">Ludwig</hi></persName> in &#x017F;einem Grundri&#x017F;&#x017F;e (1795)<lb/>
wieder.</p><lb/>
          <p>Die Sy&#x017F;tematik der Säugethiere, von denen nun die Walthiere<lb/>
nicht wieder getrennt werden, erfuhr von mehreren Seiten eine neue<lb/>
Bearbeitung, ohne jedoch von tiefer eingehender Kenntniß überall geleitet<lb/>
zu werden. Die <persName ref="http://d-nb.info/gnd/118573349">Linné</persName>'&#x017F;che Anordnung, welche an er&#x017F;ter Stelle die<lb/>
Zähne berück&#x017F;ichtigt hatte, &#x017F;uchte zunäch&#x017F;t <hi rendition="#g"><persName ref="http://d-nb.info/gnd/117631922">Bri&#x017F;&#x017F;on</persName></hi> zu verbe&#x017F;&#x017F;ern; er<lb/>
führte inde&#x017F;&#x017F;en durch &#x017F;tarres Fe&#x017F;thalten an Merkmalen, welche nur von<lb/>
Zahl und Vorkommen der Zähne und der Form der Gliedmaßen her-<lb/>
genommen waren, das Unnatürliche und Gezwungene einer kün&#x017F;tlichen<lb/>
Gruppirung vor Augen. Vom Jahre 1775 an ließ <persName ref="http://d-nb.info/gnd/118795449">Joh. Chri&#x017F;t. Dan.<lb/><hi rendition="#g">Schreber</hi></persName> (geb. 1739, &#x017F;tarb als Profe&#x017F;&#x017F;or in Erlangen 1810) die<lb/>
er&#x017F;ten Hefte &#x017F;eines großen Säugethierwerks er&#x017F;cheinen, welches er&#x017F;t<lb/>
1824 vollendet wurde. Nach der Art <persName ref="http://d-nb.info/gnd/118517252">Buffon</persName>'s legte er das größte<lb/>
Gewicht auf &#x017F;orgfältige ausführliche Be&#x017F;chreibung und Abbildung der<lb/>
einzelnen Formen, ohne deren ge&#x017F;ammte Anordnung eingehend umzu-<lb/>
ge&#x017F;talten. <hi rendition="#g"><persName ref="http://d-nb.info/gnd/117693480">Thomas Pennant</persName></hi> wollte zwar (zuer&#x017F;t 1771, dann 1781)<lb/>
den ganzen, die Verwandt&#x017F;chaft bekundenden Ge&#x017F;ammtcharakter der<lb/>
Arten zunäch&#x017F;t in Betracht ziehn; &#x017F;eine Anordnung wird aber doch auch<lb/>
eine kün&#x017F;tliche, da er zu &#x017F;treng die Form der Füße bei der Bildung der<lb/>
Hauptgruppen, in zweiter Reihe die Zähne und andere Merkmale be-<lb/>
rück&#x017F;ichtigt. Doch i&#x017F;t <persName ref="http://d-nb.info/gnd/117693480">Pennant</persName> zu Gun&#x017F;ten der natürlichen Verwandt-<lb/>
&#x017F;chaft von &#x017F;einem Schema häufig mit vollem Rechte abgewichen, &#x017F;o daß<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[546/0557] Periode der Syſtematik. entſtammten einer Vermiſchung der weißen Menſchen mit den Affen. Dadurch gelangten die höheren Affen zu der Stellung von Mittelweſen zwiſchen Menſch und Thier. Dies Vorurtheil zu bekämpfen führte Peter Camper die Anatomie des Orang-Utang aus und wies nicht bloß die ſelbſtändige thieriſche Stellung deſſelben nach, ſondern hob auch weitere charakteriſtiſche Unterſchiede zwiſchen ihm und dem Menſchen hervor. Unter dieſen erſcheint der nach ihm benannte Geſichtswinkel, die erſte Anwendung der Meſſung auf Schädel, welche er ſpäter in ſeiner Schrift über die Verſchiedenheit der Geſichtszüge der Menſchen weiter verfolgte. Den Standpunkt der Naturgeſchichte des Menſchen vom Ende des vorigen Jahrhunderts gibt überſichtlich und mit reichen Litteraturbelegen Chriſt. Friedr. Ludwig in ſeinem Grundriſſe (1795) wieder. Die Syſtematik der Säugethiere, von denen nun die Walthiere nicht wieder getrennt werden, erfuhr von mehreren Seiten eine neue Bearbeitung, ohne jedoch von tiefer eingehender Kenntniß überall geleitet zu werden. Die Linné'ſche Anordnung, welche an erſter Stelle die Zähne berückſichtigt hatte, ſuchte zunächſt Briſſon zu verbeſſern; er führte indeſſen durch ſtarres Feſthalten an Merkmalen, welche nur von Zahl und Vorkommen der Zähne und der Form der Gliedmaßen her- genommen waren, das Unnatürliche und Gezwungene einer künſtlichen Gruppirung vor Augen. Vom Jahre 1775 an ließ Joh. Chriſt. Dan. Schreber (geb. 1739, ſtarb als Profeſſor in Erlangen 1810) die erſten Hefte ſeines großen Säugethierwerks erſcheinen, welches erſt 1824 vollendet wurde. Nach der Art Buffon's legte er das größte Gewicht auf ſorgfältige ausführliche Beſchreibung und Abbildung der einzelnen Formen, ohne deren geſammte Anordnung eingehend umzu- geſtalten. Thomas Pennant wollte zwar (zuerſt 1771, dann 1781) den ganzen, die Verwandtſchaft bekundenden Geſammtcharakter der Arten zunächſt in Betracht ziehn; ſeine Anordnung wird aber doch auch eine künſtliche, da er zu ſtreng die Form der Füße bei der Bildung der Hauptgruppen, in zweiter Reihe die Zähne und andere Merkmale be- rückſichtigt. Doch iſt Pennant zu Gunſten der natürlichen Verwandt- ſchaft von ſeinem Schema häufig mit vollem Rechte abgewichen, ſo daß

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/carus_zoologie_1872
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/carus_zoologie_1872/557
Zitationshilfe: Carus, Julius Victor: Geschichte der Zoologie bis auf Johannes Müller und Charles Darwin. München, 1872, S. 546. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_zoologie_1872/557>, abgerufen am 22.11.2024.