steht aus Blasen und nimmermehr aus Blättern." Oken's Verdienst liegt in der Anerkennung des Satzes, daß die organischen Formen wer- dende und gewordene sind, sowie in der Verbreitung des wissenschaft- lichen Interesses an der Naturgeschichte, welches er theils durch seine Naturgeschichte, theils durch die Zeitschrift Isis gefördert hat. Abge- sehn von den aus seinen philosophischen Irrthümern entspringenden Eigenthümlichkeiten ist seine Naturgeschichte ein wichtiges Mittel gewor- den, die allgemeinen und speciellen naturgeschichtlichen Kenntnisse in weitere Kreise zu tragen und dadurch wieder neue Arbeiten und neue Auffassungen anzuregen. Die Isis deckte lange Zeit durch die freilich oft nicht gesunde Kritik3) und durch die encyklopädische Richtung ein Bedürfniß und ist selbst heute noch nicht genügend ersetzt.
Man frägt wohl, wie seine Philosophie, die dem ruhigen inductiven Entwickelungsgang der Wissenschaft so schnurstracks entgegentrat, An- hänger und Verbreiter finden konnte. Da muß man freilich zunächst nachsehn, was die Umstände waren, welche die Eigenthümlichkeit der Fichte-Schelling'schen Philosophie überhaupt möglich machten und be- dingten. In der ganzen deutschen Litteratur war die traurige Wirkung des dreißigjährigen Krieges noch lange fühlbar gewesen. Es war mit dem freudigen Nationalbewußtsein auch der liebevolle Sinn für das heimische Geistesleben verloren gegangen. Sprache und Form der Schöpfungen waren fremd geworden. Das Interesse erwärmte sich wohl zuweilen an einer gemüthvollen Erfassung der Natur. Man ließ aber die Welt auf Herz und Gemüth wirken, ohne ihr mit dem kräftigen Willen zu einer geistigen Auffassung und Erklärung entgegenzutreten. Die Rückäußerung hierauf war eine verschwimmende unklar frömmelnde Teleologie, welche bei dem Mangel einer selbständigen nationalen Ge- schmacksrichtung weder wissenschaftlich förderte noch formell befriedigte. Leibnitz's Philosophie hatte auf die Wissenschaft der belebten Natur, welche sich der Anwendung mathematischer Betrachtung entzog, um so weniger Einfluß, als die scholastisch-logische Form, die ihr besonders
3) Charakteristisch für Oken ist die Aussprache seines Grundsatzes bei der Kritik: "dem Freunde Freund, dem Feinde Feind, und nur dem Gleichgültigen Unpartei- lichkeit"!
Periode der Morphologie.
ſteht aus Blaſen und nimmermehr aus Blättern.“ Oken's Verdienſt liegt in der Anerkennung des Satzes, daß die organiſchen Formen wer- dende und gewordene ſind, ſowie in der Verbreitung des wiſſenſchaft- lichen Intereſſes an der Naturgeſchichte, welches er theils durch ſeine Naturgeſchichte, theils durch die Zeitſchrift Iſis gefördert hat. Abge- ſehn von den aus ſeinen philoſophiſchen Irrthümern entſpringenden Eigenthümlichkeiten iſt ſeine Naturgeſchichte ein wichtiges Mittel gewor- den, die allgemeinen und ſpeciellen naturgeſchichtlichen Kenntniſſe in weitere Kreiſe zu tragen und dadurch wieder neue Arbeiten und neue Auffaſſungen anzuregen. Die Iſis deckte lange Zeit durch die freilich oft nicht geſunde Kritik3) und durch die encyklopädiſche Richtung ein Bedürfniß und iſt ſelbſt heute noch nicht genügend erſetzt.
Man frägt wohl, wie ſeine Philoſophie, die dem ruhigen inductiven Entwickelungsgang der Wiſſenſchaft ſo ſchnurſtracks entgegentrat, An- hänger und Verbreiter finden konnte. Da muß man freilich zunächſt nachſehn, was die Umſtände waren, welche die Eigenthümlichkeit der Fichte-Schelling'ſchen Philoſophie überhaupt möglich machten und be- dingten. In der ganzen deutſchen Litteratur war die traurige Wirkung des dreißigjährigen Krieges noch lange fühlbar geweſen. Es war mit dem freudigen Nationalbewußtſein auch der liebevolle Sinn für das heimiſche Geiſtesleben verloren gegangen. Sprache und Form der Schöpfungen waren fremd geworden. Das Intereſſe erwärmte ſich wohl zuweilen an einer gemüthvollen Erfaſſung der Natur. Man ließ aber die Welt auf Herz und Gemüth wirken, ohne ihr mit dem kräftigen Willen zu einer geiſtigen Auffaſſung und Erklärung entgegenzutreten. Die Rückäußerung hierauf war eine verſchwimmende unklar frömmelnde Teleologie, welche bei dem Mangel einer ſelbſtändigen nationalen Ge- ſchmacksrichtung weder wiſſenſchaftlich förderte noch formell befriedigte. Leibnitz's Philoſophie hatte auf die Wiſſenſchaft der belebten Natur, welche ſich der Anwendung mathematiſcher Betrachtung entzog, um ſo weniger Einfluß, als die ſcholaſtiſch-logiſche Form, die ihr beſonders
3) Charakteriſtiſch für Oken iſt die Ausſprache ſeines Grundſatzes bei der Kritik: „dem Freunde Freund, dem Feinde Feind, und nur dem Gleichgültigen Unpartei- lichkeit“!
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0597"n="586"/><fwplace="top"type="header">Periode der Morphologie.</fw><lb/>ſteht aus Blaſen und nimmermehr aus Blättern.“<persNameref="http://d-nb.info/gnd/118589717">Oken</persName>'s Verdienſt<lb/>
liegt in der Anerkennung des Satzes, daß die organiſchen Formen wer-<lb/>
dende und gewordene ſind, ſowie in der Verbreitung des wiſſenſchaft-<lb/>
lichen Intereſſes an der Naturgeſchichte, welches er theils durch ſeine<lb/>
Naturgeſchichte, theils durch die Zeitſchrift Iſis gefördert hat. Abge-<lb/>ſehn von den aus ſeinen philoſophiſchen Irrthümern entſpringenden<lb/>
Eigenthümlichkeiten iſt ſeine Naturgeſchichte ein wichtiges Mittel gewor-<lb/>
den, die allgemeinen und ſpeciellen naturgeſchichtlichen Kenntniſſe in<lb/>
weitere Kreiſe zu tragen und dadurch wieder neue Arbeiten und neue<lb/>
Auffaſſungen anzuregen. Die Iſis deckte lange Zeit durch die freilich<lb/>
oft nicht geſunde Kritik<noteplace="foot"n="3)">Charakteriſtiſch für <persNameref="http://d-nb.info/gnd/118589717">Oken</persName> iſt die Ausſprache ſeines Grundſatzes bei der Kritik:<lb/>„dem Freunde Freund, dem Feinde Feind, und nur dem Gleichgültigen Unpartei-<lb/>
lichkeit“!</note> und durch die encyklopädiſche Richtung ein<lb/>
Bedürfniß und iſt ſelbſt heute noch nicht genügend erſetzt.</p><lb/><p>Man frägt wohl, wie ſeine Philoſophie, die dem ruhigen inductiven<lb/>
Entwickelungsgang der Wiſſenſchaft ſo ſchnurſtracks entgegentrat, An-<lb/>
hänger und Verbreiter finden konnte. Da muß man freilich zunächſt<lb/>
nachſehn, was die Umſtände waren, welche die Eigenthümlichkeit der<lb/><persNameref="http://d-nb.info/gnd/118532847">Fichte</persName>-<persNameref="http://d-nb.info/gnd/118607057">Schelling</persName>'ſchen Philoſophie überhaupt möglich machten und be-<lb/>
dingten. In der ganzen deutſchen Litteratur war die traurige Wirkung<lb/>
des dreißigjährigen Krieges noch lange fühlbar geweſen. Es war mit<lb/>
dem freudigen Nationalbewußtſein auch der liebevolle Sinn für das<lb/>
heimiſche Geiſtesleben verloren gegangen. Sprache und Form der<lb/>
Schöpfungen waren fremd geworden. Das Intereſſe erwärmte ſich<lb/>
wohl zuweilen an einer gemüthvollen Erfaſſung der Natur. Man ließ<lb/>
aber die Welt auf Herz und Gemüth wirken, ohne ihr mit dem kräftigen<lb/>
Willen zu einer geiſtigen Auffaſſung und Erklärung entgegenzutreten.<lb/>
Die Rückäußerung hierauf war eine verſchwimmende unklar frömmelnde<lb/>
Teleologie, welche bei dem Mangel einer ſelbſtändigen nationalen Ge-<lb/>ſchmacksrichtung weder wiſſenſchaftlich förderte noch formell befriedigte.<lb/><persNameref="http://d-nb.info/gnd/118571249">Leibnitz</persName>'s Philoſophie hatte auf die Wiſſenſchaft der belebten Natur,<lb/>
welche ſich der Anwendung mathematiſcher Betrachtung entzog, um ſo<lb/>
weniger Einfluß, als die ſcholaſtiſch-logiſche Form, die ihr beſonders<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[586/0597]
Periode der Morphologie.
ſteht aus Blaſen und nimmermehr aus Blättern.“ Oken's Verdienſt
liegt in der Anerkennung des Satzes, daß die organiſchen Formen wer-
dende und gewordene ſind, ſowie in der Verbreitung des wiſſenſchaft-
lichen Intereſſes an der Naturgeſchichte, welches er theils durch ſeine
Naturgeſchichte, theils durch die Zeitſchrift Iſis gefördert hat. Abge-
ſehn von den aus ſeinen philoſophiſchen Irrthümern entſpringenden
Eigenthümlichkeiten iſt ſeine Naturgeſchichte ein wichtiges Mittel gewor-
den, die allgemeinen und ſpeciellen naturgeſchichtlichen Kenntniſſe in
weitere Kreiſe zu tragen und dadurch wieder neue Arbeiten und neue
Auffaſſungen anzuregen. Die Iſis deckte lange Zeit durch die freilich
oft nicht geſunde Kritik 3) und durch die encyklopädiſche Richtung ein
Bedürfniß und iſt ſelbſt heute noch nicht genügend erſetzt.
Man frägt wohl, wie ſeine Philoſophie, die dem ruhigen inductiven
Entwickelungsgang der Wiſſenſchaft ſo ſchnurſtracks entgegentrat, An-
hänger und Verbreiter finden konnte. Da muß man freilich zunächſt
nachſehn, was die Umſtände waren, welche die Eigenthümlichkeit der
Fichte-Schelling'ſchen Philoſophie überhaupt möglich machten und be-
dingten. In der ganzen deutſchen Litteratur war die traurige Wirkung
des dreißigjährigen Krieges noch lange fühlbar geweſen. Es war mit
dem freudigen Nationalbewußtſein auch der liebevolle Sinn für das
heimiſche Geiſtesleben verloren gegangen. Sprache und Form der
Schöpfungen waren fremd geworden. Das Intereſſe erwärmte ſich
wohl zuweilen an einer gemüthvollen Erfaſſung der Natur. Man ließ
aber die Welt auf Herz und Gemüth wirken, ohne ihr mit dem kräftigen
Willen zu einer geiſtigen Auffaſſung und Erklärung entgegenzutreten.
Die Rückäußerung hierauf war eine verſchwimmende unklar frömmelnde
Teleologie, welche bei dem Mangel einer ſelbſtändigen nationalen Ge-
ſchmacksrichtung weder wiſſenſchaftlich förderte noch formell befriedigte.
Leibnitz's Philoſophie hatte auf die Wiſſenſchaft der belebten Natur,
welche ſich der Anwendung mathematiſcher Betrachtung entzog, um ſo
weniger Einfluß, als die ſcholaſtiſch-logiſche Form, die ihr beſonders
3) Charakteriſtiſch für Oken iſt die Ausſprache ſeines Grundſatzes bei der Kritik:
„dem Freunde Freund, dem Feinde Feind, und nur dem Gleichgültigen Unpartei-
lichkeit“!
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Carus, Julius Victor: Geschichte der Zoologie bis auf Johannes Müller und Charles Darwin. München, 1872, S. 586. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_zoologie_1872/597>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.