Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.Vorwort. Fortschritte; das muss auch so sein. Wer diplomatische Geschichteschreibt, darf über wirtschaftliche Geschichte nicht mitreden, wer byzantinische Litteratur studiert, hat sich eine so anspruchsvolle Lebensaufgabe erwählt, dass er Schnitzer macht und von den be- treffenden Fachmännern zurechtgewiesen wird, sobald er auf frühere oder spätere Zeiten überzugreifen wagt, der Histolog ist heute nur in einem beschränkten, mehr oder weniger dilettantenhaften Sinne des Wortes Zoolog (und umgekehrt), der Systematiker vermag es nicht, wie früher, in der Physiologie etwas von Bedeutung zu leisten: mit einem Wort, die strengste Beschränkung ist jetzt das eiserne Gesetz aller exakten Wissenschaft. Wer sieht aber nicht ein, dass Wissen immer erst an den Grenzscheiden lebendiges Interesse gewinnt? Jedes Fachwissen ist an und für sich vollkommen gleichgültig; erst durch die Beziehung auf Anderes erhält es Bedeutung. Was sollten uns die zehntausend Thatsachen der Histologie, wenn sie nicht zu einer gedankenvolleren Auffassung der Anatomie und der Physiologie, zu einer sicherern Erkenntnis mancher Krankheitserscheinungen, zu psychologischen Beobachtungen und, im letzten Grunde, zu einer philosophischen Betrachtung allgemeiner Naturphänomene führten? Das trifft überall zu. Nie z. B. erwächst die Philologie zu so hoher Bedeutung für unser ganzes Denken und Thun, als wenn sie auf Probleme der Anthropologie und Ethnographie Anwendung findet und in unmittelbare Beziehung zur Prähistorie des Menschenge- schlechts, zur Rassenfrage, zur Psychologie der Sprache u. s. w. tritt; nirgends kann reine Naturwissenschaft gestaltend in das Leben der Gesellschaft eingreifen, ausser wo sie zu philosophischer Würde heranwächst, und da muss doch offenbar entweder der Philosoph nebenbei ein Naturforscher sein oder der Naturforscher philosophieren. Und so sehen wir denn die Fachmänner, obwohl sie es nach ihrer eigenen Lehre nicht dürften, obwohl sie nicht müde werden, das, was sie Dilettantismus heissen, mit dem höchsten Bann zu belegen, wir sehen sie überall ihre Grenzen überschreiten; wer recht auf- merksam nach allen Seiten hin beobachtet, wird die Überzeugung gewinnen, dass die gefährlichsten Dilettanten die Gelehrten selber sind. Zwar an eine mikrokosmische Zusammenfassung wagt sich heute Keiner von ihnen, auch die ihnen zunächst liegenden Fächer vermeiden sie ängstlich, in entfernte springen sie dagegen beherzt hinüber: Juristen sehen wir in der Philologie sich herumtummeln, Metaphysiker den Indologen Sanskrit lehren, Philologen über Botanik Vorwort. Fortschritte; das muss auch so sein. Wer diplomatische Geschichteschreibt, darf über wirtschaftliche Geschichte nicht mitreden, wer byzantinische Litteratur studiert, hat sich eine so anspruchsvolle Lebensaufgabe erwählt, dass er Schnitzer macht und von den be- treffenden Fachmännern zurechtgewiesen wird, sobald er auf frühere oder spätere Zeiten überzugreifen wagt, der Histolog ist heute nur in einem beschränkten, mehr oder weniger dilettantenhaften Sinne des Wortes Zoolog (und umgekehrt), der Systematiker vermag es nicht, wie früher, in der Physiologie etwas von Bedeutung zu leisten: mit einem Wort, die strengste Beschränkung ist jetzt das eiserne Gesetz aller exakten Wissenschaft. Wer sieht aber nicht ein, dass Wissen immer erst an den Grenzscheiden lebendiges Interesse gewinnt? Jedes Fachwissen ist an und für sich vollkommen gleichgültig; erst durch die Beziehung auf Anderes erhält es Bedeutung. Was sollten uns die zehntausend Thatsachen der Histologie, wenn sie nicht zu einer gedankenvolleren Auffassung der Anatomie und der Physiologie, zu einer sicherern Erkenntnis mancher Krankheitserscheinungen, zu psychologischen Beobachtungen und, im letzten Grunde, zu einer philosophischen Betrachtung allgemeiner Naturphänomene führten? Das trifft überall zu. Nie z. B. erwächst die Philologie zu so hoher Bedeutung für unser ganzes Denken und Thun, als wenn sie auf Probleme der Anthropologie und Ethnographie Anwendung findet und in unmittelbare Beziehung zur Prähistorie des Menschenge- schlechts, zur Rassenfrage, zur Psychologie der Sprache u. s. w. tritt; nirgends kann reine Naturwissenschaft gestaltend in das Leben der Gesellschaft eingreifen, ausser wo sie zu philosophischer Würde heranwächst, und da muss doch offenbar entweder der Philosoph nebenbei ein Naturforscher sein oder der Naturforscher philosophieren. Und so sehen wir denn die Fachmänner, obwohl sie es nach ihrer eigenen Lehre nicht dürften, obwohl sie nicht müde werden, das, was sie Dilettantismus heissen, mit dem höchsten Bann zu belegen, wir sehen sie überall ihre Grenzen überschreiten; wer recht auf- merksam nach allen Seiten hin beobachtet, wird die Überzeugung gewinnen, dass die gefährlichsten Dilettanten die Gelehrten selber sind. Zwar an eine mikrokosmische Zusammenfassung wagt sich heute Keiner von ihnen, auch die ihnen zunächst liegenden Fächer vermeiden sie ängstlich, in entfernte springen sie dagegen beherzt hinüber: Juristen sehen wir in der Philologie sich herumtummeln, Metaphysiker den Indologen Sanskrit lehren, Philologen über Botanik <TEI> <text> <front> <div type="preface" n="1"> <p><pb facs="#f0015" n="VIII"/><fw place="top" type="header">Vorwort.</fw><lb/> Fortschritte; das muss auch so sein. 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Vorwort.
Fortschritte; das muss auch so sein. Wer diplomatische Geschichte
schreibt, darf über wirtschaftliche Geschichte nicht mitreden, wer
byzantinische Litteratur studiert, hat sich eine so anspruchsvolle
Lebensaufgabe erwählt, dass er Schnitzer macht und von den be-
treffenden Fachmännern zurechtgewiesen wird, sobald er auf frühere
oder spätere Zeiten überzugreifen wagt, der Histolog ist heute nur
in einem beschränkten, mehr oder weniger dilettantenhaften Sinne
des Wortes Zoolog (und umgekehrt), der Systematiker vermag es
nicht, wie früher, in der Physiologie etwas von Bedeutung zu leisten:
mit einem Wort, die strengste Beschränkung ist jetzt das eiserne
Gesetz aller exakten Wissenschaft. Wer sieht aber nicht ein, dass
Wissen immer erst an den Grenzscheiden lebendiges Interesse gewinnt?
Jedes Fachwissen ist an und für sich vollkommen gleichgültig; erst
durch die Beziehung auf Anderes erhält es Bedeutung. Was sollten
uns die zehntausend Thatsachen der Histologie, wenn sie nicht zu
einer gedankenvolleren Auffassung der Anatomie und der Physiologie,
zu einer sicherern Erkenntnis mancher Krankheitserscheinungen, zu
psychologischen Beobachtungen und, im letzten Grunde, zu einer
philosophischen Betrachtung allgemeiner Naturphänomene führten?
Das trifft überall zu. Nie z. B. erwächst die Philologie zu so hoher
Bedeutung für unser ganzes Denken und Thun, als wenn sie auf
Probleme der Anthropologie und Ethnographie Anwendung findet
und in unmittelbare Beziehung zur Prähistorie des Menschenge-
schlechts, zur Rassenfrage, zur Psychologie der Sprache u. s. w.
tritt; nirgends kann reine Naturwissenschaft gestaltend in das Leben
der Gesellschaft eingreifen, ausser wo sie zu philosophischer Würde
heranwächst, und da muss doch offenbar entweder der Philosoph
nebenbei ein Naturforscher sein oder der Naturforscher philosophieren.
Und so sehen wir denn die Fachmänner, obwohl sie es nach ihrer
eigenen Lehre nicht dürften, obwohl sie nicht müde werden, das,
was sie Dilettantismus heissen, mit dem höchsten Bann zu belegen,
wir sehen sie überall ihre Grenzen überschreiten; wer recht auf-
merksam nach allen Seiten hin beobachtet, wird die Überzeugung
gewinnen, dass die gefährlichsten Dilettanten die Gelehrten selber
sind. Zwar an eine mikrokosmische Zusammenfassung wagt sich
heute Keiner von ihnen, auch die ihnen zunächst liegenden Fächer
vermeiden sie ängstlich, in entfernte springen sie dagegen beherzt
hinüber: Juristen sehen wir in der Philologie sich herumtummeln,
Metaphysiker den Indologen Sanskrit lehren, Philologen über Botanik
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