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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Die Erscheinung Christi.

Auf diese Fragen werde ich noch öfters Gelegenheit haben,
zurückzukommen, namentlich in den Abschnitten über den Eintritt
der Juden in die abendländische Geschichte und über die Entstehung
der christlichen Kirche. Vorderhand möchte ich hoffen, dass es mir
gelungen ist, die vorgefasste Ansicht von der besonderen Religiosität
des Judentums wenigstens zu erschüttern. Ich hoffe, der Leser des
orthodox christlichen Neander wird fortan skeptisch den Kopf schütteln,
wenn er die Behauptung findet: die Erscheinung Christi bilde "den
Mittelpunkt" des religiösen Lebens der Juden, sie sei "in dem ganzen
Organismus dieser Religion und Volksgeschichte mit innerer Not-
wendigkeit angelegt worden", u. s. w.;1) über die oratorischen Floskeln
des Freidenkers Renan: "Le Christianisme est le chef-d'oeuvre du

an den einen Gott als "abgekürztes Verfahren" ist übrigens ein rührender Zug aus
den goldenen Kindertagen der christlichen Kirche!) Und was Augustinus für die
gelehrten Heiden ausführt, das bezeugt Tertullian für das ungelehrte Volk im
Allgemeinen; alle Welt glaube, sagt er, in Wahrheit nur an einen einigen Gott, und
man höre nie die Götter in der Mehrzahl anrufen, sondern immer nur: "Grosser
Gott! Guter Gott! Wie Gott will! Gott befohlen! Gott vergelt's!" Dies betrachtet
Tertullian als das Zeugnis einer von Hause aus monotheistischen Seele. "O testimonium
animae naturaliter Christianae!
" (Apologeticus, XVII). -- Damit in dieser so wichtigen
Frage nichts undeutlich bleibe, muss ich hinzufügen, dass Curtius, Paulus, Augustinus
und Tertullian sich alle vier gründlich täuschen, wenn sie in diesen Dingen den
Beweis eines Monotheismus im Sinne des semitischen Materialismus erblicken;
ihr Urteil ist hier durch den Einfluss christlicher Begriffe umnebelt. Die Vor-
stellung "das Göttliche", welches wir in dem Sanskrit Neutrum Brahman und
in dem griechischer Neutrum theion, sowie auch in dem deutschen Neutrum Gott,
welches erst in späteren Zeiten, in Folge christlichen Einflusses als Masculinum auf-
gefasst wurde (siehe Kluge's Etymol. Wörterbuch) darf durchaus nicht mit dem
persönlichen Weltschöpfer der Juden identifiziert werden. Hier gilt für alle von
semitischem Geist noch nicht berührten Arier, was Prof. Erwin Rohde für die
Hellenen ausführt: "Es beruht auf irrtümlicher Auffassung, wenn man meint, der
Grieche habe einen Zug zum Monotheismus (im jüdischen Sinne) gehabt. -- -- --
Nicht einer Einheit der göttlichen Person, wohl aber einer Einheitlichkeit
göttlichen Wesens,
einer in vielen Göttern gleichmässig lebendigen Gottheit,
einem allgemeinen Göttlichen sieht sich der Grieche gegenübergestellt,
wo er in religiöse Beziehung zu den Göttern tritt" (Die Religion der Griechen in
den Bayreuther Blättern, Jahrgang 1895, S. 213). Höchst charakteristisch sind in
dieser Beziehung die Worte Luther's: "In der Schöpfung und in den Werken
(von aussen gegen der Kreatur zu rechnen) sind wir Christen mit den Türken
eins; da sagen wir denn auch, dass nicht mehr denn ein einiger Gott sei. Aber
wir sagen, solches sei nicht genug, dass wir allein glauben, dass ein einiger
Gott sei -- -- --".
1) Allgemeine Geschichte der christlichen Religion, 4. Aufl., I, 46.
Chamberlain, Grundlagen des XIX. Jahrhunderts. 15
Die Erscheinung Christi.

Auf diese Fragen werde ich noch öfters Gelegenheit haben,
zurückzukommen, namentlich in den Abschnitten über den Eintritt
der Juden in die abendländische Geschichte und über die Entstehung
der christlichen Kirche. Vorderhand möchte ich hoffen, dass es mir
gelungen ist, die vorgefasste Ansicht von der besonderen Religiosität
des Judentums wenigstens zu erschüttern. Ich hoffe, der Leser des
orthodox christlichen Neander wird fortan skeptisch den Kopf schütteln,
wenn er die Behauptung findet: die Erscheinung Christi bilde »den
Mittelpunkt« des religiösen Lebens der Juden, sie sei »in dem ganzen
Organismus dieser Religion und Volksgeschichte mit innerer Not-
wendigkeit angelegt worden«, u. s. w.;1) über die oratorischen Floskeln
des Freidenkers Renan: »Le Christianisme est le chef-d’oeuvre du

an den einen Gott als »abgekürztes Verfahren« ist übrigens ein rührender Zug aus
den goldenen Kindertagen der christlichen Kirche!) Und was Augustinus für die
gelehrten Heiden ausführt, das bezeugt Tertullian für das ungelehrte Volk im
Allgemeinen; alle Welt glaube, sagt er, in Wahrheit nur an einen einigen Gott, und
man höre nie die Götter in der Mehrzahl anrufen, sondern immer nur: »Grosser
Gott! Guter Gott! Wie Gott will! Gott befohlen! Gott vergelt’s!« Dies betrachtet
Tertullian als das Zeugnis einer von Hause aus monotheistischen Seele. »O testimonium
animae naturaliter Christianae!
« (Apologeticus, XVII). — Damit in dieser so wichtigen
Frage nichts undeutlich bleibe, muss ich hinzufügen, dass Curtius, Paulus, Augustinus
und Tertullian sich alle vier gründlich täuschen, wenn sie in diesen Dingen den
Beweis eines Monotheismus im Sinne des semitischen Materialismus erblicken;
ihr Urteil ist hier durch den Einfluss christlicher Begriffe umnebelt. Die Vor-
stellung »das Göttliche«, welches wir in dem Sanskrit Neutrum Brahman und
in dem griechischer Neutrum ϑεῖον, sowie auch in dem deutschen Neutrum Gott,
welches erst in späteren Zeiten, in Folge christlichen Einflusses als Masculinum auf-
gefasst wurde (siehe Kluge’s Etymol. Wörterbuch) darf durchaus nicht mit dem
persönlichen Weltschöpfer der Juden identifiziert werden. Hier gilt für alle von
semitischem Geist noch nicht berührten Arier, was Prof. Erwin Rohde für die
Hellenen ausführt: »Es beruht auf irrtümlicher Auffassung, wenn man meint, der
Grieche habe einen Zug zum Monotheismus (im jüdischen Sinne) gehabt. — — —
Nicht einer Einheit der göttlichen Person, wohl aber einer Einheitlichkeit
göttlichen Wesens,
einer in vielen Göttern gleichmässig lebendigen Gottheit,
einem allgemeinen Göttlichen sieht sich der Grieche gegenübergestellt,
wo er in religiöse Beziehung zu den Göttern tritt« (Die Religion der Griechen in
den Bayreuther Blättern, Jahrgang 1895, S. 213). Höchst charakteristisch sind in
dieser Beziehung die Worte Luther’s: »In der Schöpfung und in den Werken
(von aussen gegen der Kreatur zu rechnen) sind wir Christen mit den Türken
eins; da sagen wir denn auch, dass nicht mehr denn ein einiger Gott sei. Aber
wir sagen, solches sei nicht genug, dass wir allein glauben, dass ein einiger
Gott sei — — —«.
1) Allgemeine Geschichte der christlichen Religion, 4. Aufl., I, 46.
Chamberlain, Grundlagen des XIX. Jahrhunderts. 15
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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 225. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/248>, abgerufen am 15.05.2024.