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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Das Völkerchaos.
gleichen Lehren. Die These ist bei Renan deutlich formuliert: "Die
Thatsache der Rasse", schreibt er, "ursprünglich von entscheidender
Wichtigkeit, verliert täglich an Bedeutung".1) Wie wird diese Behaup-
tung begründet? Durch den Hinweis auf die Thatsache, dass die tüchtig-
sten Nationen Europas aus gemischtem Blute entstanden sind! Welch'
eine Menge Trugschlüsse birgt nicht dieser eine Satz, welche Unfähig-
keit, sich durch Anschauung belehren zu lassen! Die Natur und die Ge-
schichte zeigen uns kein einziges Beispiel hervorragend edler, physiog-
nomisch individueller Rassen, welche nicht aus einer Vermischung her-
vorgegangen wären; und jetzt soll eine Nation von so ausgesprochener
Individualität wie die englische keine Rasse darstellen, weil sie "aus
der Vermengung von Angelsachsen, Dänen und Normannen" (noch
dazu eng verwandte Stämme) hervorgegangen ist! Die klarste Evidenz,
die mir den Engländer als ein mindestens ebenso ausgeprägtes Sonder-
wesen wie den Griechen und den Römer der Glanzepochen zeigt,
muss ich leugnen; leugnen zu Gunsten eines willkürlichen, in alle
Ewigkeit unbeweisbaren Gedankendinges, zu Gunsten der voraus-
gesetzten, ursprünglichen "reinen Rasse". Zwei Seiten früher hatte
Renan selber auf Grund der anthropologischen Befunde festgestellt,
dass bei den ältesten Ariern, Semiten, Turaniern ("les groupes aryen
primitif, semitique primitif, touranien primitif")
man Menschen von
sehr verschiedenem Körperbau antrifft, langschädelige und kurz
schädelige, also, auch sie hätten keine "gemeinsame physiologische
Einheit" besessen. Gott, welche Wahngebilde entstehen nicht, sobald
der Mensch nach angeblichen "Ursprüngen" forscht! Immer wieder
muss ich Goethe's grosses Wort anführen: "Lebhafte Frage nach der
Ursache ist von grosser Schädlichkeit". Anstatt das Gegebene, das
Erforschbare so zu nehmen wie es ist, und uns mit der Erkenntnis
der nächsten, nachweisbaren Bedingungen zu begnügen, glauben wir
immer wieder von möglichst weit zurückliegenden, gänzlich hypo-
thetischen Ursachen und Annahmen ausgehen zu müssen, denen wir das
Gegenwärtige, Zweifellose ohne Scheu opfern. So sind unsere "Em-
piriker" beschaffen. Dass sie nicht weiter als ihre eigene Nase sehen, das
glauben wir ihnen gern aufs blosse Wort, leider sehen sie aber nicht
einmal so weit, sondern rennen mit besagter Nase gegen faustdicke
Thatsachen an und klagen dann über die betreffenden Thatsachen,

1) Renan: Discours et Conferences, 3e ed., p. 297: "Le fait de la race, capital
a l'origine, va donc toujours perdant de son importance
".
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Das Völkerchaos.
gleichen Lehren. Die These ist bei Renan deutlich formuliert: »Die
Thatsache der Rasse«, schreibt er, »ursprünglich von entscheidender
Wichtigkeit, verliert täglich an Bedeutung«.1) Wie wird diese Behaup-
tung begründet? Durch den Hinweis auf die Thatsache, dass die tüchtig-
sten Nationen Europas aus gemischtem Blute entstanden sind! Welch’
eine Menge Trugschlüsse birgt nicht dieser eine Satz, welche Unfähig-
keit, sich durch Anschauung belehren zu lassen! Die Natur und die Ge-
schichte zeigen uns kein einziges Beispiel hervorragend edler, physiog-
nomisch individueller Rassen, welche nicht aus einer Vermischung her-
vorgegangen wären; und jetzt soll eine Nation von so ausgesprochener
Individualität wie die englische keine Rasse darstellen, weil sie »aus
der Vermengung von Angelsachsen, Dänen und Normannen« (noch
dazu eng verwandte Stämme) hervorgegangen ist! Die klarste Evidenz,
die mir den Engländer als ein mindestens ebenso ausgeprägtes Sonder-
wesen wie den Griechen und den Römer der Glanzepochen zeigt,
muss ich leugnen; leugnen zu Gunsten eines willkürlichen, in alle
Ewigkeit unbeweisbaren Gedankendinges, zu Gunsten der voraus-
gesetzten, ursprünglichen »reinen Rasse«. Zwei Seiten früher hatte
Renan selber auf Grund der anthropologischen Befunde festgestellt,
dass bei den ältesten Ariern, Semiten, Turaniern (»les groupes aryen
primitif, sémitique primitif, touranien primitif«)
man Menschen von
sehr verschiedenem Körperbau antrifft, langschädelige und kurz
schädelige, also, auch sie hätten keine »gemeinsame physiologische
Einheit« besessen. Gott, welche Wahngebilde entstehen nicht, sobald
der Mensch nach angeblichen »Ursprüngen« forscht! Immer wieder
muss ich Goethe’s grosses Wort anführen: »Lebhafte Frage nach der
Ursache ist von grosser Schädlichkeit«. Anstatt das Gegebene, das
Erforschbare so zu nehmen wie es ist, und uns mit der Erkenntnis
der nächsten, nachweisbaren Bedingungen zu begnügen, glauben wir
immer wieder von möglichst weit zurückliegenden, gänzlich hypo-
thetischen Ursachen und Annahmen ausgehen zu müssen, denen wir das
Gegenwärtige, Zweifellose ohne Scheu opfern. So sind unsere »Em-
piriker« beschaffen. Dass sie nicht weiter als ihre eigene Nase sehen, das
glauben wir ihnen gern aufs blosse Wort, leider sehen sie aber nicht
einmal so weit, sondern rennen mit besagter Nase gegen faustdicke
Thatsachen an und klagen dann über die betreffenden Thatsachen,

1) Renan: Discours et Conférences, 3e éd., p. 297: »Le fait de la race, capital
à l’origine, va donc toujours perdant de son importance
«.
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[291/0314] Das Völkerchaos. gleichen Lehren. Die These ist bei Renan deutlich formuliert: »Die Thatsache der Rasse«, schreibt er, »ursprünglich von entscheidender Wichtigkeit, verliert täglich an Bedeutung«. 1) Wie wird diese Behaup- tung begründet? Durch den Hinweis auf die Thatsache, dass die tüchtig- sten Nationen Europas aus gemischtem Blute entstanden sind! Welch’ eine Menge Trugschlüsse birgt nicht dieser eine Satz, welche Unfähig- keit, sich durch Anschauung belehren zu lassen! Die Natur und die Ge- schichte zeigen uns kein einziges Beispiel hervorragend edler, physiog- nomisch individueller Rassen, welche nicht aus einer Vermischung her- vorgegangen wären; und jetzt soll eine Nation von so ausgesprochener Individualität wie die englische keine Rasse darstellen, weil sie »aus der Vermengung von Angelsachsen, Dänen und Normannen« (noch dazu eng verwandte Stämme) hervorgegangen ist! Die klarste Evidenz, die mir den Engländer als ein mindestens ebenso ausgeprägtes Sonder- wesen wie den Griechen und den Römer der Glanzepochen zeigt, muss ich leugnen; leugnen zu Gunsten eines willkürlichen, in alle Ewigkeit unbeweisbaren Gedankendinges, zu Gunsten der voraus- gesetzten, ursprünglichen »reinen Rasse«. Zwei Seiten früher hatte Renan selber auf Grund der anthropologischen Befunde festgestellt, dass bei den ältesten Ariern, Semiten, Turaniern (»les groupes aryen primitif, sémitique primitif, touranien primitif«) man Menschen von sehr verschiedenem Körperbau antrifft, langschädelige und kurz schädelige, also, auch sie hätten keine »gemeinsame physiologische Einheit« besessen. Gott, welche Wahngebilde entstehen nicht, sobald der Mensch nach angeblichen »Ursprüngen« forscht! Immer wieder muss ich Goethe’s grosses Wort anführen: »Lebhafte Frage nach der Ursache ist von grosser Schädlichkeit«. Anstatt das Gegebene, das Erforschbare so zu nehmen wie es ist, und uns mit der Erkenntnis der nächsten, nachweisbaren Bedingungen zu begnügen, glauben wir immer wieder von möglichst weit zurückliegenden, gänzlich hypo- thetischen Ursachen und Annahmen ausgehen zu müssen, denen wir das Gegenwärtige, Zweifellose ohne Scheu opfern. So sind unsere »Em- piriker« beschaffen. Dass sie nicht weiter als ihre eigene Nase sehen, das glauben wir ihnen gern aufs blosse Wort, leider sehen sie aber nicht einmal so weit, sondern rennen mit besagter Nase gegen faustdicke Thatsachen an und klagen dann über die betreffenden Thatsachen, 1) Renan: Discours et Conférences, 3e éd., p. 297: »Le fait de la race, capital à l’origine, va donc toujours perdant de son importance«. 19*

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 291. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/314>, abgerufen am 27.11.2024.