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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Die Erben.
nicht über ihre eigene Kurzsichtigkeit. Was für ein Ding ist das
denn, diese ursprünglich "physiologisch einheitliche Rasse", von der
Renan redet? Vermutlich ein naher Verwandter von Häckel's Menschen-
affen. Und dieser hypothetischen Bestie zulieb soll ich leugnen, dass
das englische Volk, das preussische Volk, das spanische Volk einen
bestimmten, ganz und gar individuellen Charakter besitzt! Herr
Renan vermisst die physiologische Einheit: ja, sieht er denn nicht ein,
dass diese physiologische Einheit durch die Ehe herbeigeführt wird?
Wer sagt ihm denn, dass die hypothetischen Urarier nicht auch
geworden waren? Wir wissen allesammt nichts davon; was wir
aber wissen, lässt es analogisch vermuten. Es gab unter ihnen schmale
Köpfe und breite Köpfe: wer weiss, ob diese Mischung nicht nötig
war, um eine edelste Rasse hervorzubringen? Das gemeine englische
Pferd und das (zweifellos ursprünglich selber aus einer Mischung
hervorgegangene) arabische Pferd waren "physiologisch" ebenfalls sehr
verschieden, und aus ihrer Verbindung erzeugte sich doch im Laufe
der Zeit die physiologisch einheitlichste und edelste Tierrasse der Welt,
das englische Vollblut. Nun sieht der grosse Gelehrte Renan das
englische Menschenvollblut gewissermassen vor seinen Augen, nämlich
in historischen Zeiten entstehen. Was folgert er daraus? Er sagt:
da der heutige Engländer weder der Kelte aus Cäsar's Zeiten, noch
der Angelsachse des Hengist, noch der Däne des Knut, noch der
Normanne des Eroberers, sondern das Ergebnis einer Durchdringung
aller vier sei, so könne man von einer englischen Rasse überhaupt
nicht sprechen. Also, weil die englische Rasse eine geschichtlich
gewordene ist (wie alle, von denen wir sichere Kunde besitzen), weil
sie etwas durchaus neues, eigenartiges ist: darum existiert sie gar
nicht! Wahrhaftig, es geht nichts über Gelehrtenlogik!

"Was ihr nicht rechnet,
Glaubt ihr, sei nicht wahr".

Wir werden über die Bedeutung der Nationen für Rassenbildung
ganz anders urteilen. Das römische Reich in seiner Imperiumzeit war
die Verkörperung des antinationalen Prinzips; dieses Prinzip führte
zur Rassenlosigkeit und zugleich zum geistigen und moralischen Chaos;
die Errettung aus dem Chaos geschah durch die zunehmend scharfe Aus-
bildung des entgegengesetzten Prinzips der Nationen.1) Nicht immer

1) Dies bildet den Gegenstand des achten Kapitels.

Die Erben.
nicht über ihre eigene Kurzsichtigkeit. Was für ein Ding ist das
denn, diese ursprünglich »physiologisch einheitliche Rasse«, von der
Renan redet? Vermutlich ein naher Verwandter von Häckel’s Menschen-
affen. Und dieser hypothetischen Bestie zulieb soll ich leugnen, dass
das englische Volk, das preussische Volk, das spanische Volk einen
bestimmten, ganz und gar individuellen Charakter besitzt! Herr
Renan vermisst die physiologische Einheit: ja, sieht er denn nicht ein,
dass diese physiologische Einheit durch die Ehe herbeigeführt wird?
Wer sagt ihm denn, dass die hypothetischen Urarier nicht auch
geworden waren? Wir wissen allesammt nichts davon; was wir
aber wissen, lässt es analogisch vermuten. Es gab unter ihnen schmale
Köpfe und breite Köpfe: wer weiss, ob diese Mischung nicht nötig
war, um eine edelste Rasse hervorzubringen? Das gemeine englische
Pferd und das (zweifellos ursprünglich selber aus einer Mischung
hervorgegangene) arabische Pferd waren »physiologisch« ebenfalls sehr
verschieden, und aus ihrer Verbindung erzeugte sich doch im Laufe
der Zeit die physiologisch einheitlichste und edelste Tierrasse der Welt,
das englische Vollblut. Nun sieht der grosse Gelehrte Renan das
englische Menschenvollblut gewissermassen vor seinen Augen, nämlich
in historischen Zeiten entstehen. Was folgert er daraus? Er sagt:
da der heutige Engländer weder der Kelte aus Cäsar’s Zeiten, noch
der Angelsachse des Hengist, noch der Däne des Knut, noch der
Normanne des Eroberers, sondern das Ergebnis einer Durchdringung
aller vier sei, so könne man von einer englischen Rasse überhaupt
nicht sprechen. Also, weil die englische Rasse eine geschichtlich
gewordene ist (wie alle, von denen wir sichere Kunde besitzen), weil
sie etwas durchaus neues, eigenartiges ist: darum existiert sie gar
nicht! Wahrhaftig, es geht nichts über Gelehrtenlogik!

»Was ihr nicht rechnet,
Glaubt ihr, sei nicht wahr«.

Wir werden über die Bedeutung der Nationen für Rassenbildung
ganz anders urteilen. Das römische Reich in seiner Imperiumzeit war
die Verkörperung des antinationalen Prinzips; dieses Prinzip führte
zur Rassenlosigkeit und zugleich zum geistigen und moralischen Chaos;
die Errettung aus dem Chaos geschah durch die zunehmend scharfe Aus-
bildung des entgegengesetzten Prinzips der Nationen.1) Nicht immer

1) Dies bildet den Gegenstand des achten Kapitels.
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[292/0315] Die Erben. nicht über ihre eigene Kurzsichtigkeit. Was für ein Ding ist das denn, diese ursprünglich »physiologisch einheitliche Rasse«, von der Renan redet? Vermutlich ein naher Verwandter von Häckel’s Menschen- affen. Und dieser hypothetischen Bestie zulieb soll ich leugnen, dass das englische Volk, das preussische Volk, das spanische Volk einen bestimmten, ganz und gar individuellen Charakter besitzt! Herr Renan vermisst die physiologische Einheit: ja, sieht er denn nicht ein, dass diese physiologische Einheit durch die Ehe herbeigeführt wird? Wer sagt ihm denn, dass die hypothetischen Urarier nicht auch geworden waren? Wir wissen allesammt nichts davon; was wir aber wissen, lässt es analogisch vermuten. Es gab unter ihnen schmale Köpfe und breite Köpfe: wer weiss, ob diese Mischung nicht nötig war, um eine edelste Rasse hervorzubringen? Das gemeine englische Pferd und das (zweifellos ursprünglich selber aus einer Mischung hervorgegangene) arabische Pferd waren »physiologisch« ebenfalls sehr verschieden, und aus ihrer Verbindung erzeugte sich doch im Laufe der Zeit die physiologisch einheitlichste und edelste Tierrasse der Welt, das englische Vollblut. Nun sieht der grosse Gelehrte Renan das englische Menschenvollblut gewissermassen vor seinen Augen, nämlich in historischen Zeiten entstehen. Was folgert er daraus? Er sagt: da der heutige Engländer weder der Kelte aus Cäsar’s Zeiten, noch der Angelsachse des Hengist, noch der Däne des Knut, noch der Normanne des Eroberers, sondern das Ergebnis einer Durchdringung aller vier sei, so könne man von einer englischen Rasse überhaupt nicht sprechen. Also, weil die englische Rasse eine geschichtlich gewordene ist (wie alle, von denen wir sichere Kunde besitzen), weil sie etwas durchaus neues, eigenartiges ist: darum existiert sie gar nicht! Wahrhaftig, es geht nichts über Gelehrtenlogik! »Was ihr nicht rechnet, Glaubt ihr, sei nicht wahr«. Wir werden über die Bedeutung der Nationen für Rassenbildung ganz anders urteilen. Das römische Reich in seiner Imperiumzeit war die Verkörperung des antinationalen Prinzips; dieses Prinzip führte zur Rassenlosigkeit und zugleich zum geistigen und moralischen Chaos; die Errettung aus dem Chaos geschah durch die zunehmend scharfe Aus- bildung des entgegengesetzten Prinzips der Nationen. 1) Nicht immer 1) Dies bildet den Gegenstand des achten Kapitels.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 292. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/315>, abgerufen am 27.11.2024.