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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Religion.
möchte, ist, dass Dante's Ansichten über das rein geistige, der welt-
lichen Macht untergeordnete Amt der Kirche durch die Absätze 75
und 76 des Syllabus vom Jahre 1864 einem zweifachen Anathema
verfallen sind. Und zwar ist dies durchaus logisch, da, wie ich oben
gezeigt habe, die Kraft Rom's in seiner Konsequenz und speziell darin
liegt, dass es unter keiner Bedingung seine zeitlichen Ansprüche auf-
giebt. Wahrlich, es ist eine lendenlahme, einsichtslose Orthodoxie,
welche Dante heute weisszuwaschen sucht, anstatt offen zuzugeben, dass
er zu der gefährlichsten Klasse der echten Protestler gehörte. Denn
Dante ging weiter als Karl der Grosse. Diesem hatte eine Art Cäsaro-
papismus vorgeschwebt, in welchem er, der Kaiser, wie Konstantin
und Theodosius, die doppelte Gewalt besitzen sollte, im Gegensatz zur
Papocäsarie, die der römische pontifex maximus erstrebte; er blieb also
wenigstens innerhalb des echten römischen Weltherrschaftsgedankens.
Dante dagegen forderte die gänzliche Trennung von Kirche und Staat:
das aber wäre der Ruin Rom's, was die Päpste besser verstanden
haben, als Dante und sein neuester Biograph. Dante schimpft Kon-
stantin die Ursache alles Übels, weil er den Kirchenstaat gegründet habe:

Ahi, Costantin! di quanto mal fu matre,
Non la tua conversion, ma quella dote
Che da te prese il primo ricco patre!
1)

Und zwar verdient nach ihm Konstantin doppelten Tadel, einmal
weil er die Kirche auf Irrwege geleitet, sodann weil er sein eigenes
Reich geschwächt habe. Im 55. Vers des 20. Gesanges des Paradiso
sagt er, Konstantin habe, indem er der Kirche Macht verlieh, "die
Welt vernichtet". Und verfolgt man diese Idee nun in Dante's Schrift
De Monarchia, so stellt es sich heraus, dass hier eine durchaus
heidnisch-historische Lehre vorliegt: die Vorstellung, dass die Welt-
herrschaft des imperialen Roms rechtmässiges Erbe sei!2) Wie ist es
möglich, so nahe an der Grundidee von Rom's Kirchenmacht vorbei-
zustreifen und sie doch nicht zu fassen? Denn gerade die Kirche ist
ja die Erbin jener Weltmacht! Durch ihre Besitzergreifung entstand

1) Inferno, XIX. "O Constantin! wie vielen Übels ist Ursache nicht zwar
deine Bekehrung, das Geschenk aber, welches der erste reiche Vater von dir empfing".
2) De Monarchia, das ganze zweite Buch. Siehe aber namentlich Kap. 3,
in welchem die "göttliche Vorherbestimmung" des römischen Volkes zur Welt-
regierung nicht etwa aus Deutungen alttestamentlicher Propheten oder gar aus
der Einsetzung Petri hergeleitet, sondern aus dem Stammbaum des Äneas und
der Kreusa nachgewiesen wird! Rasse nicht Religion entscheidet bei Dante!

Religion.
möchte, ist, dass Dante’s Ansichten über das rein geistige, der welt-
lichen Macht untergeordnete Amt der Kirche durch die Absätze 75
und 76 des Syllabus vom Jahre 1864 einem zweifachen Anathema
verfallen sind. Und zwar ist dies durchaus logisch, da, wie ich oben
gezeigt habe, die Kraft Rom’s in seiner Konsequenz und speziell darin
liegt, dass es unter keiner Bedingung seine zeitlichen Ansprüche auf-
giebt. Wahrlich, es ist eine lendenlahme, einsichtslose Orthodoxie,
welche Dante heute weisszuwaschen sucht, anstatt offen zuzugeben, dass
er zu der gefährlichsten Klasse der echten Protestler gehörte. Denn
Dante ging weiter als Karl der Grosse. Diesem hatte eine Art Cäsaro-
papismus vorgeschwebt, in welchem er, der Kaiser, wie Konstantin
und Theodosius, die doppelte Gewalt besitzen sollte, im Gegensatz zur
Papocäsarie, die der römische pontifex maximus erstrebte; er blieb also
wenigstens innerhalb des echten römischen Weltherrschaftsgedankens.
Dante dagegen forderte die gänzliche Trennung von Kirche und Staat:
das aber wäre der Ruin Rom’s, was die Päpste besser verstanden
haben, als Dante und sein neuester Biograph. Dante schimpft Kon-
stantin die Ursache alles Übels, weil er den Kirchenstaat gegründet habe:

Ahi, Costantin! di quanto mal fu matre,
Non la tua conversion, ma quella dote
Che da te prese il primo ricco patre!
1)

Und zwar verdient nach ihm Konstantin doppelten Tadel, einmal
weil er die Kirche auf Irrwege geleitet, sodann weil er sein eigenes
Reich geschwächt habe. Im 55. Vers des 20. Gesanges des Paradiso
sagt er, Konstantin habe, indem er der Kirche Macht verlieh, »die
Welt vernichtet«. Und verfolgt man diese Idee nun in Dante’s Schrift
De Monarchia, so stellt es sich heraus, dass hier eine durchaus
heidnisch-historische Lehre vorliegt: die Vorstellung, dass die Welt-
herrschaft des imperialen Roms rechtmässiges Erbe sei!2) Wie ist es
möglich, so nahe an der Grundidee von Rom’s Kirchenmacht vorbei-
zustreifen und sie doch nicht zu fassen? Denn gerade die Kirche ist
ja die Erbin jener Weltmacht! Durch ihre Besitzergreifung entstand

1) Inferno, XIX. »O Constantin! wie vielen Übels ist Ursache nicht zwar
deine Bekehrung, das Geschenk aber, welches der erste reiche Vater von dir empfing«.
2) De Monarchia, das ganze zweite Buch. Siehe aber namentlich Kap. 3,
in welchem die »göttliche Vorherbestimmung« des römischen Volkes zur Welt-
regierung nicht etwa aus Deutungen alttestamentlicher Propheten oder gar aus
der Einsetzung Petri hergeleitet, sondern aus dem Stammbaum des Äneas und
der Kreusa nachgewiesen wird! Rasse nicht Religion entscheidet bei Dante!
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[621/0100] Religion. möchte, ist, dass Dante’s Ansichten über das rein geistige, der welt- lichen Macht untergeordnete Amt der Kirche durch die Absätze 75 und 76 des Syllabus vom Jahre 1864 einem zweifachen Anathema verfallen sind. Und zwar ist dies durchaus logisch, da, wie ich oben gezeigt habe, die Kraft Rom’s in seiner Konsequenz und speziell darin liegt, dass es unter keiner Bedingung seine zeitlichen Ansprüche auf- giebt. Wahrlich, es ist eine lendenlahme, einsichtslose Orthodoxie, welche Dante heute weisszuwaschen sucht, anstatt offen zuzugeben, dass er zu der gefährlichsten Klasse der echten Protestler gehörte. Denn Dante ging weiter als Karl der Grosse. Diesem hatte eine Art Cäsaro- papismus vorgeschwebt, in welchem er, der Kaiser, wie Konstantin und Theodosius, die doppelte Gewalt besitzen sollte, im Gegensatz zur Papocäsarie, die der römische pontifex maximus erstrebte; er blieb also wenigstens innerhalb des echten römischen Weltherrschaftsgedankens. Dante dagegen forderte die gänzliche Trennung von Kirche und Staat: das aber wäre der Ruin Rom’s, was die Päpste besser verstanden haben, als Dante und sein neuester Biograph. Dante schimpft Kon- stantin die Ursache alles Übels, weil er den Kirchenstaat gegründet habe: Ahi, Costantin! di quanto mal fu matre, Non la tua conversion, ma quella dote Che da te prese il primo ricco patre! 1) Und zwar verdient nach ihm Konstantin doppelten Tadel, einmal weil er die Kirche auf Irrwege geleitet, sodann weil er sein eigenes Reich geschwächt habe. Im 55. Vers des 20. Gesanges des Paradiso sagt er, Konstantin habe, indem er der Kirche Macht verlieh, »die Welt vernichtet«. Und verfolgt man diese Idee nun in Dante’s Schrift De Monarchia, so stellt es sich heraus, dass hier eine durchaus heidnisch-historische Lehre vorliegt: die Vorstellung, dass die Welt- herrschaft des imperialen Roms rechtmässiges Erbe sei! 2) Wie ist es möglich, so nahe an der Grundidee von Rom’s Kirchenmacht vorbei- zustreifen und sie doch nicht zu fassen? Denn gerade die Kirche ist ja die Erbin jener Weltmacht! Durch ihre Besitzergreifung entstand 1) Inferno, XIX. »O Constantin! wie vielen Übels ist Ursache nicht zwar deine Bekehrung, das Geschenk aber, welches der erste reiche Vater von dir empfing«. 2) De Monarchia, das ganze zweite Buch. Siehe aber namentlich Kap. 3, in welchem die »göttliche Vorherbestimmung« des römischen Volkes zur Welt- regierung nicht etwa aus Deutungen alttestamentlicher Propheten oder gar aus der Einsetzung Petri hergeleitet, sondern aus dem Stammbaum des Äneas und der Kreusa nachgewiesen wird! Rasse nicht Religion entscheidet bei Dante!

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Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 621. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/100>, abgerufen am 09.11.2024.