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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Die Entstehung einer neuen Welt.
17., 18. und 19. Jahrhunderts, denn es gehört zu den wenigen Dingen,
die nicht (wie Mephistopheles von der Politik behauptet) immer wieder
von vorne anfangen, sondern einen bestimmten Gang gehen. Man
sagt und man klagt und Einige frohlocken, dies bedeute ein Abfallen
von der Religion. Mit nichten glaube ich das. Denn es träfe nur zu,
wenn die uns überlieferte christliche Kirche der Inbegriff der Religion
wäre, und dass das nicht der Fall ist, hoffe ich klar und unwiderleg-
lich dargethan zu haben.1) Damit jene Behauptung zuträfe, müsste
man sich ausserdem zu der Annahme erdreisten, ein Shakespeare, ein
Leonardo da Vinci, ein Goethe hätten keine Religion gehabt, worüber
später ein Mehreres. Nichtsdestoweniger bedeutet dieser Vorgang ohne
Zweifel eine Abnahme des kirchlichen Anteils an der allgemeinen poli-
tischen Verfassung der Gesellschaft; diese Tendenz zeigt sich schon im
16. Jahrhundert (z. B. in Männern wie Erasmus und More) und wächst
seitdem von Jahr zu Jahr. Sie ist eine der äusserst charakteristischen
Züge in der Physiognomie der im Entstehen begriffenen neuen Welt,
zugleich ein echt germanischer und überhaupt alt-indoeuropäischer Zug.

So wenig es mir einfallen konnte, eine politische Geschichte von
sechs Jahrhunderten auf zwanzig Druckseiten auch nur zu skizzieren,
so notwendig war es, gerade diesen einen Punkt ins volle Licht zu
setzen: dass die Reformation eine politische That ist und zwar die
entscheidende unter allen. Sie erst hat den Germanen sich selbst wieder-
gegeben. Es bedarf, glaube ich, keines Kommentars, damit die Wichtigkeit
dieser Einsicht für das Verständnis von Vergangenheit, Gegenwart und
Zukunft in die Augen springe. Doch möchte ich ein Ereignis in diesem
Zusammenhang nicht unerwähnt lassen: die französische Revolution.

Die
französische
Revolution.

Es gehört zu den erstaunlichsten Verirrungen des Menschen-
urteils, diese Katastrophe als den Morgen eines neuen Tages, als einen
Grenzpfahl der Geschichte zu betrachten. Lediglich dadurch, dass die
Reformation in Frankreich nicht zum Durchbruch hatte kommen
können, wurde die Revolution unumgänglich. Frankreich war noch zu
reich an unverfälscht germanischem Blute, um wie Spanien schweigend
zu verrotten, zu arm daran, um sich aus der verhängnisvollen Um-
armung der theokratischen Weltmacht vollends loszuringen. Die Huge-
nottenkriege haben von Anfang an das Missliche, dass die Protestanten
nicht allein gegen Rom, sondern zugleich gegen das Königtum und
dessen Bestrebungen, eine nationale Einheit herzustellen, ankämpfen,

1) Siehe Kap. 7.

Die Entstehung einer neuen Welt.
17., 18. und 19. Jahrhunderts, denn es gehört zu den wenigen Dingen,
die nicht (wie Mephistopheles von der Politik behauptet) immer wieder
von vorne anfangen, sondern einen bestimmten Gang gehen. Man
sagt und man klagt und Einige frohlocken, dies bedeute ein Abfallen
von der Religion. Mit nichten glaube ich das. Denn es träfe nur zu,
wenn die uns überlieferte christliche Kirche der Inbegriff der Religion
wäre, und dass das nicht der Fall ist, hoffe ich klar und unwiderleg-
lich dargethan zu haben.1) Damit jene Behauptung zuträfe, müsste
man sich ausserdem zu der Annahme erdreisten, ein Shakespeare, ein
Leonardo da Vinci, ein Goethe hätten keine Religion gehabt, worüber
später ein Mehreres. Nichtsdestoweniger bedeutet dieser Vorgang ohne
Zweifel eine Abnahme des kirchlichen Anteils an der allgemeinen poli-
tischen Verfassung der Gesellschaft; diese Tendenz zeigt sich schon im
16. Jahrhundert (z. B. in Männern wie Erasmus und More) und wächst
seitdem von Jahr zu Jahr. Sie ist eine der äusserst charakteristischen
Züge in der Physiognomie der im Entstehen begriffenen neuen Welt,
zugleich ein echt germanischer und überhaupt alt-indoeuropäischer Zug.

So wenig es mir einfallen konnte, eine politische Geschichte von
sechs Jahrhunderten auf zwanzig Druckseiten auch nur zu skizzieren,
so notwendig war es, gerade diesen einen Punkt ins volle Licht zu
setzen: dass die Reformation eine politische That ist und zwar die
entscheidende unter allen. Sie erst hat den Germanen sich selbst wieder-
gegeben. Es bedarf, glaube ich, keines Kommentars, damit die Wichtigkeit
dieser Einsicht für das Verständnis von Vergangenheit, Gegenwart und
Zukunft in die Augen springe. Doch möchte ich ein Ereignis in diesem
Zusammenhang nicht unerwähnt lassen: die französische Revolution.

Die
französische
Revolution.

Es gehört zu den erstaunlichsten Verirrungen des Menschen-
urteils, diese Katastrophe als den Morgen eines neuen Tages, als einen
Grenzpfahl der Geschichte zu betrachten. Lediglich dadurch, dass die
Reformation in Frankreich nicht zum Durchbruch hatte kommen
können, wurde die Revolution unumgänglich. Frankreich war noch zu
reich an unverfälscht germanischem Blute, um wie Spanien schweigend
zu verrotten, zu arm daran, um sich aus der verhängnisvollen Um-
armung der theokratischen Weltmacht vollends loszuringen. Die Huge-
nottenkriege haben von Anfang an das Missliche, dass die Protestanten
nicht allein gegen Rom, sondern zugleich gegen das Königtum und
dessen Bestrebungen, eine nationale Einheit herzustellen, ankämpfen,

1) Siehe Kap. 7.
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[848/0327] Die Entstehung einer neuen Welt. 17., 18. und 19. Jahrhunderts, denn es gehört zu den wenigen Dingen, die nicht (wie Mephistopheles von der Politik behauptet) immer wieder von vorne anfangen, sondern einen bestimmten Gang gehen. Man sagt und man klagt und Einige frohlocken, dies bedeute ein Abfallen von der Religion. Mit nichten glaube ich das. Denn es träfe nur zu, wenn die uns überlieferte christliche Kirche der Inbegriff der Religion wäre, und dass das nicht der Fall ist, hoffe ich klar und unwiderleg- lich dargethan zu haben. 1) Damit jene Behauptung zuträfe, müsste man sich ausserdem zu der Annahme erdreisten, ein Shakespeare, ein Leonardo da Vinci, ein Goethe hätten keine Religion gehabt, worüber später ein Mehreres. Nichtsdestoweniger bedeutet dieser Vorgang ohne Zweifel eine Abnahme des kirchlichen Anteils an der allgemeinen poli- tischen Verfassung der Gesellschaft; diese Tendenz zeigt sich schon im 16. Jahrhundert (z. B. in Männern wie Erasmus und More) und wächst seitdem von Jahr zu Jahr. Sie ist eine der äusserst charakteristischen Züge in der Physiognomie der im Entstehen begriffenen neuen Welt, zugleich ein echt germanischer und überhaupt alt-indoeuropäischer Zug. So wenig es mir einfallen konnte, eine politische Geschichte von sechs Jahrhunderten auf zwanzig Druckseiten auch nur zu skizzieren, so notwendig war es, gerade diesen einen Punkt ins volle Licht zu setzen: dass die Reformation eine politische That ist und zwar die entscheidende unter allen. Sie erst hat den Germanen sich selbst wieder- gegeben. Es bedarf, glaube ich, keines Kommentars, damit die Wichtigkeit dieser Einsicht für das Verständnis von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in die Augen springe. Doch möchte ich ein Ereignis in diesem Zusammenhang nicht unerwähnt lassen: die französische Revolution. Es gehört zu den erstaunlichsten Verirrungen des Menschen- urteils, diese Katastrophe als den Morgen eines neuen Tages, als einen Grenzpfahl der Geschichte zu betrachten. Lediglich dadurch, dass die Reformation in Frankreich nicht zum Durchbruch hatte kommen können, wurde die Revolution unumgänglich. Frankreich war noch zu reich an unverfälscht germanischem Blute, um wie Spanien schweigend zu verrotten, zu arm daran, um sich aus der verhängnisvollen Um- armung der theokratischen Weltmacht vollends loszuringen. Die Huge- nottenkriege haben von Anfang an das Missliche, dass die Protestanten nicht allein gegen Rom, sondern zugleich gegen das Königtum und dessen Bestrebungen, eine nationale Einheit herzustellen, ankämpfen, 1) Siehe Kap. 7.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 848. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/327>, abgerufen am 21.11.2024.