Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Chamisso, Adelbert von: Peter Schlemihl's wundersame Geschichte. Nürnberg, 1814.

Bild:
<< vorherige Seite

membra poetae doch zusammen hält, und erst
aus sich zum Scherz entläßt, damit sie ihr eige¬
nes, selbstständiges Spiel treiben, und mit diesem
Tollwerden ihre Einseitigkeit und Nichtigkeit er¬
weisen -- diese Elemente sind es, welche hier ganz
unwillkührlich und absichtslos auf eine kindliche,
demüthige und wahrhaft selige Einfalt des Ge¬
müths, als Gipfel aller Bildung, hintreiben. Aber
der Reichthum des Witzes, welcher hier herrscht,
und die ganze innere und äußere Welt, wo sie sich
bietet, sein nennt, zeigt, daß hier keinesweges von
einer unkräftigen, den Kampf scheuenden Einfalt
die Rede sei; sondern von der Einfalt eines Wei¬
sen, der sich kräftig und heiter durch die Wider¬
sprüche hindurch gerungen. Nur hier, im Mit¬
telpunkte, ist der Johannes Author fest zu halten;
im Übrigen und Einzelnen entschlüpft der Schalk
unter den Händen. So heißt es mitten im desul¬
torischsten Scherz: "Der Mensch ist ein Halb¬
gott; aber nicht wie Theseus, Herkules und an¬
dere: denn Nichtsthun, sagen alle, ist seine größte
Heldenthat. Die Helden führten ewige Kriege;
und auch hier lebt der Halbgott im Kriege mit
der Welt, im Frieden mit sich; der Halbmensch

membra poetae doch zuſammen haͤlt, und erſt
aus ſich zum Scherz entlaͤßt, damit ſie ihr eige¬
nes, ſelbſtſtaͤndiges Spiel treiben, und mit dieſem
Tollwerden ihre Einſeitigkeit und Nichtigkeit er¬
weiſen — dieſe Elemente ſind es, welche hier ganz
unwillkuͤhrlich und abſichtslos auf eine kindliche,
demuͤthige und wahrhaft ſelige Einfalt des Ge¬
muͤths, als Gipfel aller Bildung, hintreiben. Aber
der Reichthum des Witzes, welcher hier herrſcht,
und die ganze innere und aͤußere Welt, wo ſie ſich
bietet, ſein nennt, zeigt, daß hier keinesweges von
einer unkraͤftigen, den Kampf ſcheuenden Einfalt
die Rede ſei; ſondern von der Einfalt eines Wei¬
ſen, der ſich kraͤftig und heiter durch die Wider¬
ſpruͤche hindurch gerungen. Nur hier, im Mit¬
telpunkte, iſt der Johannes Author feſt zu halten;
im Übrigen und Einzelnen entſchluͤpft der Schalk
unter den Haͤnden. So heißt es mitten im deſul¬
toriſchſten Scherz: “Der Menſch iſt ein Halb¬
gott; aber nicht wie Theſeus, Herkules und an¬
dere: denn Nichtsthun, ſagen alle, iſt ſeine groͤßte
Heldenthat. Die Helden fuͤhrten ewige Kriege;
und auch hier lebt der Halbgott im Kriege mit
der Welt, im Frieden mit ſich; der Halbmenſch

<TEI>
  <text>
    <back>
      <div type="advertisement" n="1">
        <p><pb facs="#f0150" n="130"/><hi rendition="#aq">membra poetae</hi> doch zu&#x017F;ammen ha&#x0364;lt, und er&#x017F;t<lb/>
aus &#x017F;ich zum Scherz entla&#x0364;ßt, damit &#x017F;ie ihr eige¬<lb/>
nes, &#x017F;elb&#x017F;t&#x017F;ta&#x0364;ndiges Spiel treiben, und mit die&#x017F;em<lb/>
Tollwerden ihre Ein&#x017F;eitigkeit und Nichtigkeit er¬<lb/>
wei&#x017F;en &#x2014; die&#x017F;e Elemente &#x017F;ind es, welche hier ganz<lb/>
unwillku&#x0364;hrlich und ab&#x017F;ichtslos auf eine kindliche,<lb/>
demu&#x0364;thige und wahrhaft &#x017F;elige Einfalt des Ge¬<lb/>
mu&#x0364;ths, als Gipfel aller Bildung, hintreiben. Aber<lb/>
der Reichthum des Witzes, welcher hier herr&#x017F;cht,<lb/>
und die ganze innere und a&#x0364;ußere Welt, wo &#x017F;ie &#x017F;ich<lb/>
bietet, &#x017F;ein nennt, zeigt, daß hier keinesweges von<lb/>
einer unkra&#x0364;ftigen, den Kampf &#x017F;cheuenden Einfalt<lb/>
die Rede &#x017F;ei; &#x017F;ondern von der Einfalt eines Wei¬<lb/>
&#x017F;en, der &#x017F;ich kra&#x0364;ftig und heiter durch die Wider¬<lb/>
&#x017F;pru&#x0364;che hindurch gerungen. Nur hier, im Mit¬<lb/>
telpunkte, i&#x017F;t der Johannes Author fe&#x017F;t zu halten;<lb/>
im Übrigen und Einzelnen ent&#x017F;chlu&#x0364;pft der Schalk<lb/>
unter den Ha&#x0364;nden. So heißt es mitten im de&#x017F;ul¬<lb/>
tori&#x017F;ch&#x017F;ten Scherz: &#x201C;Der Men&#x017F;ch i&#x017F;t ein Halb¬<lb/>
gott; aber nicht wie The&#x017F;eus, Herkules und an¬<lb/>
dere: denn Nichtsthun, &#x017F;agen alle, i&#x017F;t &#x017F;eine gro&#x0364;ßte<lb/>
Heldenthat. Die Helden fu&#x0364;hrten ewige Kriege;<lb/>
und auch hier lebt der Halbgott im Kriege mit<lb/>
der Welt, im Frieden mit &#x017F;ich; der Halbmen&#x017F;ch<lb/></p>
      </div>
    </back>
  </text>
</TEI>
[130/0150] membra poetae doch zuſammen haͤlt, und erſt aus ſich zum Scherz entlaͤßt, damit ſie ihr eige¬ nes, ſelbſtſtaͤndiges Spiel treiben, und mit dieſem Tollwerden ihre Einſeitigkeit und Nichtigkeit er¬ weiſen — dieſe Elemente ſind es, welche hier ganz unwillkuͤhrlich und abſichtslos auf eine kindliche, demuͤthige und wahrhaft ſelige Einfalt des Ge¬ muͤths, als Gipfel aller Bildung, hintreiben. Aber der Reichthum des Witzes, welcher hier herrſcht, und die ganze innere und aͤußere Welt, wo ſie ſich bietet, ſein nennt, zeigt, daß hier keinesweges von einer unkraͤftigen, den Kampf ſcheuenden Einfalt die Rede ſei; ſondern von der Einfalt eines Wei¬ ſen, der ſich kraͤftig und heiter durch die Wider¬ ſpruͤche hindurch gerungen. Nur hier, im Mit¬ telpunkte, iſt der Johannes Author feſt zu halten; im Übrigen und Einzelnen entſchluͤpft der Schalk unter den Haͤnden. So heißt es mitten im deſul¬ toriſchſten Scherz: “Der Menſch iſt ein Halb¬ gott; aber nicht wie Theſeus, Herkules und an¬ dere: denn Nichtsthun, ſagen alle, iſt ſeine groͤßte Heldenthat. Die Helden fuͤhrten ewige Kriege; und auch hier lebt der Halbgott im Kriege mit der Welt, im Frieden mit ſich; der Halbmenſch

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Beigebunden im Anhang des für das DTA gewählten E… [mehr]

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/chamisso_schlemihl_1814
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/chamisso_schlemihl_1814/150
Zitationshilfe: Chamisso, Adelbert von: Peter Schlemihl's wundersame Geschichte. Nürnberg, 1814, S. 130. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamisso_schlemihl_1814/150>, abgerufen am 21.11.2024.