Chamisso, Adelbert von: Peter Schlemihl's wundersame Geschichte. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 17. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–98. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.halb Millionen. -- Er muß sehr viel gestohlen haben. -- Was sind das wieder für Reden! Er hat weislich gespart, wo verschwendet wurde. -- Ein Mann, der die Livree getragen hat. -- Dummes Zeug! er hat doch einen untadligen Schatten. -- Du hast Recht, aber -- -- Der Mann im grauen Rock lachte und sah mich an. Die Thüre ging auf, und Mina trat heraus. Sie stützte sich auf den Arm einer Kammerfrau, fülle Thränen flössen auf ihre schönen blassen Wangen. Sie setzte sich in einen Sessel, der für sie unter den Linden bereitet war, und ihr Vater nahm einen Stuhl neben ihr. Er faßte zärtlich ihre Hand und redete sie, die heftiger zu weinen anfing, mit zarten Worten an: Du bist mein gutes, liebes Kind, du wirst auch vernünftig sein, wirst nicht deinen alten Vater betrüben wollen, der nur dein Glück will; ich begreife es wohl, liebes Herz, daß es dich sehr erschüttert hat, du bist wunderbar deinem Unglück entkommen! Bevor wir den schändlichen Betrug entdeckt, hast du diesen Unwürdigen sehr geliebt; siehe, Mina, ich weiß es und mache dir keine Vorwürfe darüber. Ich selber, liebes Kind, habe ihn auch geliebt, so lange ich ihn für einen großen Herrn angesehen habe. Nun siehst du selber ein, wie anders Alles geworden. Was! ein jeder Pudel hat ja seinen Schatten, und mein liebes einziges Kind sollte einen Mann -- -- Nein, du denkst auch gar nicht mehr an ihn. -- Höre, Mina, nun wirbt ein Mann halb Millionen. — Er muß sehr viel gestohlen haben. — Was sind das wieder für Reden! Er hat weislich gespart, wo verschwendet wurde. — Ein Mann, der die Livree getragen hat. — Dummes Zeug! er hat doch einen untadligen Schatten. — Du hast Recht, aber — — Der Mann im grauen Rock lachte und sah mich an. Die Thüre ging auf, und Mina trat heraus. Sie stützte sich auf den Arm einer Kammerfrau, fülle Thränen flössen auf ihre schönen blassen Wangen. Sie setzte sich in einen Sessel, der für sie unter den Linden bereitet war, und ihr Vater nahm einen Stuhl neben ihr. Er faßte zärtlich ihre Hand und redete sie, die heftiger zu weinen anfing, mit zarten Worten an: Du bist mein gutes, liebes Kind, du wirst auch vernünftig sein, wirst nicht deinen alten Vater betrüben wollen, der nur dein Glück will; ich begreife es wohl, liebes Herz, daß es dich sehr erschüttert hat, du bist wunderbar deinem Unglück entkommen! Bevor wir den schändlichen Betrug entdeckt, hast du diesen Unwürdigen sehr geliebt; siehe, Mina, ich weiß es und mache dir keine Vorwürfe darüber. Ich selber, liebes Kind, habe ihn auch geliebt, so lange ich ihn für einen großen Herrn angesehen habe. Nun siehst du selber ein, wie anders Alles geworden. Was! ein jeder Pudel hat ja seinen Schatten, und mein liebes einziges Kind sollte einen Mann — — Nein, du denkst auch gar nicht mehr an ihn. — Höre, Mina, nun wirbt ein Mann <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="6"> <p><pb facs="#f0067"/> halb Millionen. — Er muß sehr viel gestohlen haben. — Was sind das wieder für Reden! Er hat weislich gespart, wo verschwendet wurde. — Ein Mann, der die Livree getragen hat. — Dummes Zeug! er hat doch einen untadligen Schatten. — Du hast Recht, aber — —</p><lb/> <p>Der Mann im grauen Rock lachte und sah mich an. Die Thüre ging auf, und Mina trat heraus. Sie stützte sich auf den Arm einer Kammerfrau, fülle Thränen flössen auf ihre schönen blassen Wangen. Sie setzte sich in einen Sessel, der für sie unter den Linden bereitet war, und ihr Vater nahm einen Stuhl neben ihr. Er faßte zärtlich ihre Hand und redete sie, die heftiger zu weinen anfing, mit zarten Worten an:</p><lb/> <p>Du bist mein gutes, liebes Kind, du wirst auch vernünftig sein, wirst nicht deinen alten Vater betrüben wollen, der nur dein Glück will; ich begreife es wohl, liebes Herz, daß es dich sehr erschüttert hat, du bist wunderbar deinem Unglück entkommen! Bevor wir den schändlichen Betrug entdeckt, hast du diesen Unwürdigen sehr geliebt; siehe, Mina, ich weiß es und mache dir keine Vorwürfe darüber. Ich selber, liebes Kind, habe ihn auch geliebt, so lange ich ihn für einen großen Herrn angesehen habe. Nun siehst du selber ein, wie anders Alles geworden. Was! ein jeder Pudel hat ja seinen Schatten, und mein liebes einziges Kind sollte einen Mann — — Nein, du denkst auch gar nicht mehr an ihn. — Höre, Mina, nun wirbt ein Mann<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0067]
halb Millionen. — Er muß sehr viel gestohlen haben. — Was sind das wieder für Reden! Er hat weislich gespart, wo verschwendet wurde. — Ein Mann, der die Livree getragen hat. — Dummes Zeug! er hat doch einen untadligen Schatten. — Du hast Recht, aber — —
Der Mann im grauen Rock lachte und sah mich an. Die Thüre ging auf, und Mina trat heraus. Sie stützte sich auf den Arm einer Kammerfrau, fülle Thränen flössen auf ihre schönen blassen Wangen. Sie setzte sich in einen Sessel, der für sie unter den Linden bereitet war, und ihr Vater nahm einen Stuhl neben ihr. Er faßte zärtlich ihre Hand und redete sie, die heftiger zu weinen anfing, mit zarten Worten an:
Du bist mein gutes, liebes Kind, du wirst auch vernünftig sein, wirst nicht deinen alten Vater betrüben wollen, der nur dein Glück will; ich begreife es wohl, liebes Herz, daß es dich sehr erschüttert hat, du bist wunderbar deinem Unglück entkommen! Bevor wir den schändlichen Betrug entdeckt, hast du diesen Unwürdigen sehr geliebt; siehe, Mina, ich weiß es und mache dir keine Vorwürfe darüber. Ich selber, liebes Kind, habe ihn auch geliebt, so lange ich ihn für einen großen Herrn angesehen habe. Nun siehst du selber ein, wie anders Alles geworden. Was! ein jeder Pudel hat ja seinen Schatten, und mein liebes einziges Kind sollte einen Mann — — Nein, du denkst auch gar nicht mehr an ihn. — Höre, Mina, nun wirbt ein Mann
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Zitationshilfe: | Chamisso, Adelbert von: Peter Schlemihl's wundersame Geschichte. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 17. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–98. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamisso_schlemihl_1910/67>, abgerufen am 16.08.2024. |