Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Clodius, Christian August Heinrich: Entwurf einer systematischen Poetik nebst Collectaneen zu ihrer Ausführung. Erster Theil. Leipzig, 1804.

Bild:
<< vorherige Seite

p1c_XV.001
Schwärmerey entschuldigt. Allein ein weit ehrwürdigeres p1c_XV.002
Ansehn bekömmt der sogenannte Mystizismus, wenn er an p1c_XV.003
die Spitze der Philosophie gestellt wird.

p1c_XV.004
An der Spitze der Philosophie als reiner Vernunftwissenschaft p1c_XV.005
muß etwas absolut bestimmendes stehn. Dies p1c_XV.006
kann keine Erkenntniß seyn. Erkennen heißt urtheilen p1c_XV.007
nach Gründen. Der nothwendige Grund der copula p1c_XV.008
von Subjekt und Prädicat liegt allemal außerhalb des p1c_XV.009
Urtheils. Also ist kein Urtheil selbst, das absolut nothwendige. p1c_XV.010
Die mathematischen Axiomen haben ihre Nothwendigkeit p1c_XV.011
nicht in sich selbst, unmittelbar, sondern in der p1c_XV.012
Evidenz, mit welcher Punkt und Linie als anschauliche p1c_XV.013
Begriffe in Raum und Zeit construirt werden. Eben so, p1c_XV.014
wenn man ein Moralgesetz an die Spitze des Systems der p1c_XV.015
Wahrheit setzte, wär in diesem Satze keinesweges das p1c_XV.016
absolutnothwendige enthalten. Denn die Verbindlichkeit p1c_XV.017
des Gesetzes liegt immer noch außerhalb. Diese p1c_XV.018
Verbindlichkeit ist gar keine Erkenntniß. Sie p1c_XV.019
beruht weder auf einem materiellen Satze, der Einsicht p1c_XV.020
von etwas objektiv absolut Guten, zu dem man nothwendig p1c_XV.021
verbunden wär, (alle bestimmten Objekte, z. B. p1c_XV.022
Glückseligkeit, sind zufällig) noch auf einem formellen p1c_XV.023
Satze (dem Satze des Widerspruchs). Denn dieser ließe

p1c_XV.001
Schwärmerey entschuldigt. Allein ein weit ehrwürdigeres p1c_XV.002
Ansehn bekömmt der sogenannte Mystizismus, wenn er an p1c_XV.003
die Spitze der Philosophie gestellt wird.

p1c_XV.004
An der Spitze der Philosophie als reiner Vernunftwissenschaft p1c_XV.005
muß etwas absolut bestimmendes stehn. Dies p1c_XV.006
kann keine Erkenntniß seyn. Erkennen heißt urtheilen p1c_XV.007
nach Gründen. Der nothwendige Grund der copula p1c_XV.008
von Subjekt und Prädicat liegt allemal außerhalb des p1c_XV.009
Urtheils. Also ist kein Urtheil selbst, das absolut nothwendige. p1c_XV.010
Die mathematischen Axiomen haben ihre Nothwendigkeit p1c_XV.011
nicht in sich selbst, unmittelbar, sondern in der p1c_XV.012
Evidenz, mit welcher Punkt und Linie als anschauliche p1c_XV.013
Begriffe in Raum und Zeit construirt werden. Eben so, p1c_XV.014
wenn man ein Moralgesetz an die Spitze des Systems der p1c_XV.015
Wahrheit setzte, wär in diesem Satze keinesweges das p1c_XV.016
absolutnothwendige enthalten. Denn die Verbindlichkeit p1c_XV.017
des Gesetzes liegt immer noch außerhalb. Diese p1c_XV.018
Verbindlichkeit ist gar keine Erkenntniß. Sie p1c_XV.019
beruht weder auf einem materiellen Satze, der Einsicht p1c_XV.020
von etwas objektiv absolut Guten, zu dem man nothwendig p1c_XV.021
verbunden wär, (alle bestimmten Objekte, z. B. p1c_XV.022
Glückseligkeit, sind zufällig) noch auf einem formellen p1c_XV.023
Satze (dem Satze des Widerspruchs). Denn dieser ließe

<TEI>
  <text>
    <front>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0019" n="RXV"/><lb n="p1c_XV.001"/>
Schwärmerey entschuldigt. Allein ein weit ehrwürdigeres <lb n="p1c_XV.002"/>
Ansehn bekömmt der sogenannte Mystizismus, wenn er an <lb n="p1c_XV.003"/>
die Spitze der Philosophie gestellt wird.</p>
        <p><lb n="p1c_XV.004"/>
An der Spitze der Philosophie als reiner Vernunftwissenschaft <lb n="p1c_XV.005"/>
muß etwas <hi rendition="#g">absolut</hi> bestimmendes stehn. Dies <lb n="p1c_XV.006"/>
kann keine <hi rendition="#g">Erkenntniß</hi> seyn. <hi rendition="#g">Erkennen</hi> heißt <hi rendition="#g">urtheilen</hi> <lb n="p1c_XV.007"/>
nach Gründen. Der nothwendige Grund der <hi rendition="#aq">copula</hi> <lb n="p1c_XV.008"/>
von Subjekt und Prädicat liegt allemal außerhalb des <lb n="p1c_XV.009"/>
Urtheils. Also ist kein <hi rendition="#g">Urtheil</hi> selbst, das <hi rendition="#g">absolut</hi> nothwendige. <lb n="p1c_XV.010"/>
Die mathematischen Axiomen haben ihre Nothwendigkeit <lb n="p1c_XV.011"/>
nicht in sich selbst, unmittelbar, sondern in der <lb n="p1c_XV.012"/> <hi rendition="#g">Evidenz,</hi> mit welcher Punkt und Linie als anschauliche <lb n="p1c_XV.013"/>
Begriffe in Raum und Zeit construirt werden. Eben so, <lb n="p1c_XV.014"/>
wenn man ein Moralgesetz an die Spitze des Systems der <lb n="p1c_XV.015"/>
Wahrheit setzte, wär in diesem Satze keinesweges das <lb n="p1c_XV.016"/> <hi rendition="#g">absolutnothwendige</hi> enthalten. Denn die <hi rendition="#g">Verbindlichkeit</hi> <lb n="p1c_XV.017"/>
des Gesetzes liegt immer noch außerhalb. Diese <lb n="p1c_XV.018"/> <hi rendition="#g">Verbindlichkeit</hi> ist gar keine <hi rendition="#g">Erkenntniß.</hi> Sie <lb n="p1c_XV.019"/>
beruht weder auf einem <hi rendition="#g">materiellen</hi> Satze, der Einsicht <lb n="p1c_XV.020"/>
von etwas <hi rendition="#g">objektiv</hi> absolut <hi rendition="#g">Guten,</hi> zu dem man nothwendig <lb n="p1c_XV.021"/>
verbunden wär, (alle bestimmten Objekte, z. B. <lb n="p1c_XV.022"/>
Glückseligkeit, sind zufällig) noch auf einem <hi rendition="#g">formellen</hi> <lb n="p1c_XV.023"/>
Satze (dem Satze des Widerspruchs). Denn dieser ließe
</p>
      </div>
    </front>
  </text>
</TEI>
[RXV/0019] p1c_XV.001 Schwärmerey entschuldigt. Allein ein weit ehrwürdigeres p1c_XV.002 Ansehn bekömmt der sogenannte Mystizismus, wenn er an p1c_XV.003 die Spitze der Philosophie gestellt wird. p1c_XV.004 An der Spitze der Philosophie als reiner Vernunftwissenschaft p1c_XV.005 muß etwas absolut bestimmendes stehn. Dies p1c_XV.006 kann keine Erkenntniß seyn. Erkennen heißt urtheilen p1c_XV.007 nach Gründen. Der nothwendige Grund der copula p1c_XV.008 von Subjekt und Prädicat liegt allemal außerhalb des p1c_XV.009 Urtheils. Also ist kein Urtheil selbst, das absolut nothwendige. p1c_XV.010 Die mathematischen Axiomen haben ihre Nothwendigkeit p1c_XV.011 nicht in sich selbst, unmittelbar, sondern in der p1c_XV.012 Evidenz, mit welcher Punkt und Linie als anschauliche p1c_XV.013 Begriffe in Raum und Zeit construirt werden. Eben so, p1c_XV.014 wenn man ein Moralgesetz an die Spitze des Systems der p1c_XV.015 Wahrheit setzte, wär in diesem Satze keinesweges das p1c_XV.016 absolutnothwendige enthalten. Denn die Verbindlichkeit p1c_XV.017 des Gesetzes liegt immer noch außerhalb. Diese p1c_XV.018 Verbindlichkeit ist gar keine Erkenntniß. Sie p1c_XV.019 beruht weder auf einem materiellen Satze, der Einsicht p1c_XV.020 von etwas objektiv absolut Guten, zu dem man nothwendig p1c_XV.021 verbunden wär, (alle bestimmten Objekte, z. B. p1c_XV.022 Glückseligkeit, sind zufällig) noch auf einem formellen p1c_XV.023 Satze (dem Satze des Widerspruchs). Denn dieser ließe

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/clodius_poetik01_1804
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/clodius_poetik01_1804/19
Zitationshilfe: Clodius, Christian August Heinrich: Entwurf einer systematischen Poetik nebst Collectaneen zu ihrer Ausführung. Erster Theil. Leipzig, 1804, S. RXV. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/clodius_poetik01_1804/19>, abgerufen am 28.04.2024.