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Clodius, Christian August Heinrich: Entwurf einer systematischen Poetik nebst Collectaneen zu ihrer Ausführung. Erster Theil. Leipzig, 1804.

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Kantische höchste Gut, eine nach Würden vertheilte Glückseligkeit. p1c_027.002
Dieses höchste Gut ist ein Widerspruch der individualisirenden p1c_027.003
Erscheinungswelt, also das höchste Gut p1c_027.004
etwa für diese Welt, aber nicht für eine höhere, Entzweyung p1c_027.005
nicht Seligkeit. Die höhere Tugend, wie die Stoiker recht p1c_027.006
gut einsahen, muß den Sinn für individuelle Glückseligkeit p1c_027.007
vernichten, und die Freuden des edlern Menschen fangen p1c_027.008
an, mit der Liebe, mit der Freundschaft, mit der Vaterlands=und p1c_027.009
Menschenliebe, also da, wo sich das Jndividuum p1c_027.010
verliehrt. Diese praktische Jdendität des Jchs und der p1c_027.011
Welt ist das Gefühl einer idealen Welt, wo alles Jndividuelle p1c_027.012
sich in einem seligen Ganzen vergißt, die Ahnung eines p1c_027.013
Himmels, wo es kein erschlichenes Vorrecht, kein Eigenthum, p1c_027.014
keine Schranke des Einzelnen giebt, sondern, wo p1c_027.015
sich alles dem Heiligsten in dem Grade nähert, als es selbst p1c_027.016
heilig ist. Die Vorahnung dieser praktischen seligen Jdendität, p1c_027.017
ist die einzige mögliche reine Triebfeder für unser p1c_027.018
Handeln, nicht eine unzureichende Achtung für das Gesetz, p1c_027.019
die Kant verlangt, nicht die individuelle Glückseligkeit. Mit p1c_027.020
einem Worte, die Gewißheit, daß ein Gott durch uns p1c_027.021
schafft, und durch unsere Handlungen die widerstrebende p1c_027.022
Welt seinen innern Gesetzen gleich machen will, ist die Religion. p1c_027.023
Diese Religion, deren Jmperatif die Vernunft p1c_027.024
selbst erst begründet und zur Reflexion auf sich herausgehen p1c_027.025
heißt, kann nicht, wie die Kantianer meynen, innerhalb p1c_027.026
der Gränzen der bloßen Vernunft dargestellt werden. Es p1c_027.027
ist unbegreiflich, wie selbst Theologen die Stirn haben können, p1c_027.028
Kanten so blind nachzubeten, daß sie zu verstehn geben,

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Kantische höchste Gut, eine nach Würden vertheilte Glückseligkeit. p1c_027.002
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Zitationshilfe: Clodius, Christian August Heinrich: Entwurf einer systematischen Poetik nebst Collectaneen zu ihrer Ausführung. Erster Theil. Leipzig, 1804, S. 27. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/clodius_poetik01_1804/85>, abgerufen am 09.05.2024.