Clodius, Christian August Heinrich: Entwurf einer systematischen Poetik nebst Collectaneen zu ihrer Ausführung. Zweiter Theil. Leipzig, 1804.p2c_641.001 p2c_641.001 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0165" n="641"/><lb n="p2c_641.001"/> das <hi rendition="#aq">pulpitum</hi> sey höher gewesen, als der Ort der Schauspieler. <lb n="p2c_641.002"/> Uebrigens hat der Ausdruck <hi rendition="#aq">pulpitum</hi> vielleicht <lb n="p2c_641.003"/> einen weitern und engern Sinn. ─ Nach diesen Bemerkungen <lb n="p2c_641.004"/> läßt sich das Wesen des <hi rendition="#g">Chors</hi> folgendermaßen <lb n="p2c_641.005"/> angeben: Er ist eine <hi rendition="#g">lyrische</hi> Person, eine Anzahl vereinigter <lb n="p2c_641.006"/> Sänger und Rhapsoden, welche eigentlich ursprünglich <lb n="p2c_641.007"/> das Ganze der Handlung vortragen und interpretiren. <lb n="p2c_641.008"/> Jnsofern repräsentirt der Chor den <hi rendition="#g">Dichter.</hi> Er ist das <lb n="p2c_641.009"/> Fundament, auf welchem sich das Gebäu der Handlung <lb n="p2c_641.010"/> erhebt. Durch den Chor werden wir immer daran erinnert, <lb n="p2c_641.011"/> das Ganze sey eigentlich eine <hi rendition="#g">Vorstellung,</hi> keine <lb n="p2c_641.012"/> Wirklichkeit. Denn der Chor macht den Erzähler, wie <lb n="p2c_641.013"/> der Heldendichter. Er zieht moralische Folgen aus der <lb n="p2c_641.014"/> Handlung, sagt zuweilen voraus, welche Person sich nähert, <lb n="p2c_641.015"/> was geschehn werde, und erhält dadurch die <hi rendition="#g">ruhige</hi> <lb n="p2c_641.016"/> Würde des Ganzen. Die Handlung selbst ist leidenschaftlich. <lb n="p2c_641.017"/> Die Personen sind in Leidenschaft. Wär wahre Nachahmung, <lb n="p2c_641.018"/> und höchste Jllusion der Zweck der Tragödie, so <lb n="p2c_641.019"/> würde alle ideale Ruhe und Nüchternheit des Kunstwerks <lb n="p2c_641.020"/> verlohren gehn. Denn es ist keine Person da, welche die <lb n="p2c_641.021"/> volle Besinnung hat, wie bey der Epopöe der Erzähler. <lb n="p2c_641.022"/> Deswegen ist der Chor da, als ein <hi rendition="#g">außerdramatisches</hi> <lb n="p2c_641.023"/> Wesen, das die Uebersicht des Ganzen giebt. Um nun aber <lb n="p2c_641.024"/> doch der <hi rendition="#g">Jllusion</hi> etwas zu gestatten, nimmt der Chor <lb n="p2c_641.025"/> die äußere Gestalt von Personen an, welche möglicher Weise <lb n="p2c_641.026"/> interessirte Zuschauer bey der Handlung gewesen seyn können. <lb n="p2c_641.027"/> Doch gehn neuere Kunstrichter zu weit, wenn sie deshalb <lb n="p2c_641.028"/> behaupten, der <hi rendition="#g">Chor</hi> repräseutire ein <hi rendition="#g">ideales</hi> Publikum </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [641/0165]
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das pulpitum sey höher gewesen, als der Ort der Schauspieler. p2c_641.002
Uebrigens hat der Ausdruck pulpitum vielleicht p2c_641.003
einen weitern und engern Sinn. ─ Nach diesen Bemerkungen p2c_641.004
läßt sich das Wesen des Chors folgendermaßen p2c_641.005
angeben: Er ist eine lyrische Person, eine Anzahl vereinigter p2c_641.006
Sänger und Rhapsoden, welche eigentlich ursprünglich p2c_641.007
das Ganze der Handlung vortragen und interpretiren. p2c_641.008
Jnsofern repräsentirt der Chor den Dichter. Er ist das p2c_641.009
Fundament, auf welchem sich das Gebäu der Handlung p2c_641.010
erhebt. Durch den Chor werden wir immer daran erinnert, p2c_641.011
das Ganze sey eigentlich eine Vorstellung, keine p2c_641.012
Wirklichkeit. Denn der Chor macht den Erzähler, wie p2c_641.013
der Heldendichter. Er zieht moralische Folgen aus der p2c_641.014
Handlung, sagt zuweilen voraus, welche Person sich nähert, p2c_641.015
was geschehn werde, und erhält dadurch die ruhige p2c_641.016
Würde des Ganzen. Die Handlung selbst ist leidenschaftlich. p2c_641.017
Die Personen sind in Leidenschaft. Wär wahre Nachahmung, p2c_641.018
und höchste Jllusion der Zweck der Tragödie, so p2c_641.019
würde alle ideale Ruhe und Nüchternheit des Kunstwerks p2c_641.020
verlohren gehn. Denn es ist keine Person da, welche die p2c_641.021
volle Besinnung hat, wie bey der Epopöe der Erzähler. p2c_641.022
Deswegen ist der Chor da, als ein außerdramatisches p2c_641.023
Wesen, das die Uebersicht des Ganzen giebt. Um nun aber p2c_641.024
doch der Jllusion etwas zu gestatten, nimmt der Chor p2c_641.025
die äußere Gestalt von Personen an, welche möglicher Weise p2c_641.026
interessirte Zuschauer bey der Handlung gewesen seyn können. p2c_641.027
Doch gehn neuere Kunstrichter zu weit, wenn sie deshalb p2c_641.028
behaupten, der Chor repräseutire ein ideales Publikum
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