Clodius, Christian August Heinrich: Entwurf einer systematischen Poetik nebst Collectaneen zu ihrer Ausführung. Zweiter Theil. Leipzig, 1804.p2c_781.001 p2c_781.001 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0305" n="781"/><lb n="p2c_781.001"/> individuelle Daseyn idealisirte. So mußte also eine <hi rendition="#g">neue</hi> <lb n="p2c_781.002"/> Poesie entstehn, welche in der idealen Weltgeschichte freylich <lb n="p2c_781.003"/> um eine ganze Epoche hinter den Aussichten des Christenthums <lb n="p2c_781.004"/> zurück ist, und der <hi rendition="#g">göttlichen</hi> Poesie der Hebräer <lb n="p2c_781.005"/> am nächsten kommt. Hier erscheint der Mensch in dem Zustand <lb n="p2c_781.006"/> der Kultur und der Reflexion, auf der einen Seite <lb n="p2c_781.007"/> verachtend sein individuelles Daseyn, auf der andern aufblickend <lb n="p2c_781.008"/> zu einer allgemeinen idealen göttlichen Natur, in <lb n="p2c_781.009"/> welche er sich aber noch nicht aufgenommen fühlt. Wenn <lb n="p2c_781.010"/> wir den Unterschied der <hi rendition="#g">alten</hi> und <hi rendition="#g">neuen</hi> Poesie durch <lb n="p2c_781.011"/> die einzelnen Gattungen der Dichtkunst verfolgen, so ergeben <lb n="p2c_781.012"/> sich folgende Charakterzüge. Jn der <hi rendition="#g">lyrischen</hi> Poesie <lb n="p2c_781.013"/> der <hi rendition="#g">Alten</hi> herrscht idealisirte <hi rendition="#g">Sinnlichkeit,</hi> und <lb n="p2c_781.014"/> individuelles Leben. Die <hi rendition="#g">Oden</hi> von Pindar, Anakreon, <lb n="p2c_781.015"/> Horaz, sind eine Reihe wohlgeordneter Bilder, welche die <lb n="p2c_781.016"/> Anschauung beschäftigen. Der Gegenstand bezieht sich gewöhnlich <lb n="p2c_781.017"/> auf äußerliche Gestalt und Schönheit, Kampfspiele, <lb n="p2c_781.018"/> Gasimahle, sinnliche Liebe u. s. w. Das <hi rendition="#g">Gedicht</hi> hängt <lb n="p2c_781.019"/> <hi rendition="#g">objektiv</hi> als ein lebendiges Gemälde zusammen, es ist ein <lb n="p2c_781.020"/> Jdyllion im eigentlichsten Sinne des Worts. Die Einbildungskraft <lb n="p2c_781.021"/> bestimmt, wie Horaz das Muster giebt, den <lb n="p2c_781.022"/> Plan. Die <hi rendition="#g">lyrische</hi> Poesie der <hi rendition="#g">Neuern</hi> hat durch die <lb n="p2c_781.023"/> religiöse Umänderung der Jdeen einen ganz andern Schwung <lb n="p2c_781.024"/> bekommen. Der Horazischen und Anacreontischen Poesie <lb n="p2c_781.025"/> steht <hi rendition="#g">Petrark,</hi> der pindarischen, <hi rendition="#g">Klopstok</hi> entgegen. <lb n="p2c_781.026"/> Der gebildete Mensch hat das Hauptinteresse für den <hi rendition="#g">äussern</hi> <lb n="p2c_781.027"/> Glanz verlohren. Nur höhere <hi rendition="#g">Jdeale</hi> begeistern <lb n="p2c_781.028"/> den neuern Odendichter. Seine Helden müssen mehr über </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [781/0305]
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individuelle Daseyn idealisirte. So mußte also eine neue p2c_781.002
Poesie entstehn, welche in der idealen Weltgeschichte freylich p2c_781.003
um eine ganze Epoche hinter den Aussichten des Christenthums p2c_781.004
zurück ist, und der göttlichen Poesie der Hebräer p2c_781.005
am nächsten kommt. Hier erscheint der Mensch in dem Zustand p2c_781.006
der Kultur und der Reflexion, auf der einen Seite p2c_781.007
verachtend sein individuelles Daseyn, auf der andern aufblickend p2c_781.008
zu einer allgemeinen idealen göttlichen Natur, in p2c_781.009
welche er sich aber noch nicht aufgenommen fühlt. Wenn p2c_781.010
wir den Unterschied der alten und neuen Poesie durch p2c_781.011
die einzelnen Gattungen der Dichtkunst verfolgen, so ergeben p2c_781.012
sich folgende Charakterzüge. Jn der lyrischen Poesie p2c_781.013
der Alten herrscht idealisirte Sinnlichkeit, und p2c_781.014
individuelles Leben. Die Oden von Pindar, Anakreon, p2c_781.015
Horaz, sind eine Reihe wohlgeordneter Bilder, welche die p2c_781.016
Anschauung beschäftigen. Der Gegenstand bezieht sich gewöhnlich p2c_781.017
auf äußerliche Gestalt und Schönheit, Kampfspiele, p2c_781.018
Gasimahle, sinnliche Liebe u. s. w. Das Gedicht hängt p2c_781.019
objektiv als ein lebendiges Gemälde zusammen, es ist ein p2c_781.020
Jdyllion im eigentlichsten Sinne des Worts. Die Einbildungskraft p2c_781.021
bestimmt, wie Horaz das Muster giebt, den p2c_781.022
Plan. Die lyrische Poesie der Neuern hat durch die p2c_781.023
religiöse Umänderung der Jdeen einen ganz andern Schwung p2c_781.024
bekommen. Der Horazischen und Anacreontischen Poesie p2c_781.025
steht Petrark, der pindarischen, Klopstok entgegen. p2c_781.026
Der gebildete Mensch hat das Hauptinteresse für den äussern p2c_781.027
Glanz verlohren. Nur höhere Jdeale begeistern p2c_781.028
den neuern Odendichter. Seine Helden müssen mehr über
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