Clodius, Christian August Heinrich: Entwurf einer systematischen Poetik nebst Collectaneen zu ihrer Ausführung. Zweiter Theil. Leipzig, 1804.p2c_558.001 p2c_558.001 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0082" n="558"/><lb n="p2c_558.001"/> poetischen Briefen den Namen von Gedichten. Vermuthlich <lb n="p2c_558.002"/> hatte er die Sendschreiben in Gottscheds Manier in Gedanken. <lb n="p2c_558.003"/> Denn sonst ist kein Grund von dieser Behauptung <lb n="p2c_558.004"/> einzusehen. „Der Himmel selbst, spricht Pope, erfand <lb n="p2c_558.005"/> die Schrift zur Hülfe des Unglücklichen, für irgend einen <lb n="p2c_558.006"/> verbannten Liebenden, oder ein gefangenes Mädchen. Der <lb n="p2c_558.007"/> Buchstabe lebt, er spricht, er haucht den Athem der Liebe, <lb n="p2c_558.008"/> kommt warm von der Seele, und giebt treu ihr Feuer wieder. <lb n="p2c_558.009"/> Die jungfräulichen Wünsche zeigen sich in ihm ohne <lb n="p2c_558.010"/> Furcht. Er erspart ihnen die Schamröthe, gießt das ganze <lb n="p2c_558.011"/> Herz aus, erhält die süße Gemeinschaft von Seele mit <lb n="p2c_558.012"/> Seele, und bringt einen Seufzer vom Jndus zum Pole.“ <lb n="p2c_558.013"/> Warum sollte also die Briefform eines Gedichts, selbst eines <lb n="p2c_558.014"/> erhabenen Gedichts unwürdig seyn? ─ Freylich ist es thörig, <lb n="p2c_558.015"/> wenn der italienische Dichter Crasso Adam an Eva, ein <lb n="p2c_558.016"/> anderer Gott den Vater an die Jungfran Maria schreiben <lb n="p2c_558.017"/> läßt. ─ Allein die französischen Dichter, welche den Cato <lb n="p2c_558.018"/> an den Cäsar, Hannibal an Flamminius, Montezuma an <lb n="p2c_558.019"/> Cortes, Carl den Ersten an seinen Sohn, Gabriele an <lb n="p2c_558.020"/> Heinrich den Vierten, Leonora an den Tasso schreiben lassen, <lb n="p2c_558.021"/> haben die <hi rendition="#g">Jdee</hi> der Heroide sehr gut gefaßt, die Ausführung <lb n="p2c_558.022"/> sey übrigens, wie sie wolle. Es ist gar nicht nöthig, <lb n="p2c_558.023"/> daß die Leidenschaft der Liebe in der Heroide herrsche. Eben <lb n="p2c_558.024"/> so wenig darf die <hi rendition="#g">Heroide,</hi> wie Eschenburg thut, als ein <lb n="p2c_558.025"/> <hi rendition="#g">dramatisches</hi> Gedicht aufgeführt werden, wenn gleich <lb n="p2c_558.026"/> die Personen im Ovid und andern Dichtern einander antworten. <lb n="p2c_558.027"/> <hi rendition="#g">Dramatisch</hi> ist blos das Gedicht, dessen Gedankenreihe <lb n="p2c_558.028"/> durch eine dargestellte Handlung bestimmt wird. </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [558/0082]
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poetischen Briefen den Namen von Gedichten. Vermuthlich p2c_558.002
hatte er die Sendschreiben in Gottscheds Manier in Gedanken. p2c_558.003
Denn sonst ist kein Grund von dieser Behauptung p2c_558.004
einzusehen. „Der Himmel selbst, spricht Pope, erfand p2c_558.005
die Schrift zur Hülfe des Unglücklichen, für irgend einen p2c_558.006
verbannten Liebenden, oder ein gefangenes Mädchen. Der p2c_558.007
Buchstabe lebt, er spricht, er haucht den Athem der Liebe, p2c_558.008
kommt warm von der Seele, und giebt treu ihr Feuer wieder. p2c_558.009
Die jungfräulichen Wünsche zeigen sich in ihm ohne p2c_558.010
Furcht. Er erspart ihnen die Schamröthe, gießt das ganze p2c_558.011
Herz aus, erhält die süße Gemeinschaft von Seele mit p2c_558.012
Seele, und bringt einen Seufzer vom Jndus zum Pole.“ p2c_558.013
Warum sollte also die Briefform eines Gedichts, selbst eines p2c_558.014
erhabenen Gedichts unwürdig seyn? ─ Freylich ist es thörig, p2c_558.015
wenn der italienische Dichter Crasso Adam an Eva, ein p2c_558.016
anderer Gott den Vater an die Jungfran Maria schreiben p2c_558.017
läßt. ─ Allein die französischen Dichter, welche den Cato p2c_558.018
an den Cäsar, Hannibal an Flamminius, Montezuma an p2c_558.019
Cortes, Carl den Ersten an seinen Sohn, Gabriele an p2c_558.020
Heinrich den Vierten, Leonora an den Tasso schreiben lassen, p2c_558.021
haben die Jdee der Heroide sehr gut gefaßt, die Ausführung p2c_558.022
sey übrigens, wie sie wolle. Es ist gar nicht nöthig, p2c_558.023
daß die Leidenschaft der Liebe in der Heroide herrsche. Eben p2c_558.024
so wenig darf die Heroide, wie Eschenburg thut, als ein p2c_558.025
dramatisches Gedicht aufgeführt werden, wenn gleich p2c_558.026
die Personen im Ovid und andern Dichtern einander antworten. p2c_558.027
Dramatisch ist blos das Gedicht, dessen Gedankenreihe p2c_558.028
durch eine dargestellte Handlung bestimmt wird.
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