Thüringen bleiben möchte. Er wollte sich jetzt nicht von ihr stören lassen, er gewann seine Einsamkeit täglich lieber, und doch hatte er in diesen Tagen eigentlich gar Nichts vor sich, er vegetirte mehr me- chanisch dahin, als daß er bewußt lebte, als daß er jetzt eine Individualität sein durfte, die sich in ihrer reichen Subjektivität selbst genug ist.
Manchmal beunruhigte ihn das Schicksal Hed- wigs doch sehr. Zuerst zuckte er bei jedem Anschlagen der Glocke zusammen, er fürchtete, der Postbote würde in sein Zimmer treten und ihm die tausend Mark zurückbringen, deren Annahme die Adressatin verweigert hätte. Aber der sonst so Willkommene blieb aus, blieb aus einen Tag nach dem anderen -- und Adam war das in diesem Falle ganz recht, er beruhigte sich wieder. Hedwig hatte das Geld also angenommen, ihre Lage hatte sie wohl dazu gezwungen, aber warum sollte er Bedenken tragen, sein Thun als eine Art von Sühne aufzufassen? Es ist ja nun einmal so auf der Welt, daß seelische Verletzungen durch materielle Bußacte wieder ausgeglichen werden können. Und doch kam ihm der Gedanke an den Tod Irmers immer wieder, er ver- mied es mit ängstlicher Scheu, eine Zeitung zur Hand zu nehmen, in der er etwa eine Notiz darüber finden konnte. Irmers Brief, den er in einer be- sonders nervösen Stunde aufgebrochen und in zit- ternder Hast flüchtig überflogen hatte, nachdem er ihn schon unzählige Male in Händen gehabt, aber stets wieder bei Seite gelegt, hatte er sofort ver-
Thüringen bleiben möchte. Er wollte ſich jetzt nicht von ihr ſtören laſſen, er gewann ſeine Einſamkeit täglich lieber, und doch hatte er in dieſen Tagen eigentlich gar Nichts vor ſich, er vegetirte mehr me- chaniſch dahin, als daß er bewußt lebte, als daß er jetzt eine Individualität ſein durfte, die ſich in ihrer reichen Subjektivität ſelbſt genug iſt.
Manchmal beunruhigte ihn das Schickſal Hed- wigs doch ſehr. Zuerſt zuckte er bei jedem Anſchlagen der Glocke zuſammen, er fürchtete, der Poſtbote würde in ſein Zimmer treten und ihm die tauſend Mark zurückbringen, deren Annahme die Adreſſatin verweigert hätte. Aber der ſonſt ſo Willkommene blieb aus, blieb aus einen Tag nach dem anderen — und Adam war das in dieſem Falle ganz recht, er beruhigte ſich wieder. Hedwig hatte das Geld alſo angenommen, ihre Lage hatte ſie wohl dazu gezwungen, aber warum ſollte er Bedenken tragen, ſein Thun als eine Art von Sühne aufzufaſſen? Es iſt ja nun einmal ſo auf der Welt, daß ſeeliſche Verletzungen durch materielle Bußacte wieder ausgeglichen werden können. Und doch kam ihm der Gedanke an den Tod Irmers immer wieder, er ver- mied es mit ängſtlicher Scheu, eine Zeitung zur Hand zu nehmen, in der er etwa eine Notiz darüber finden konnte. Irmers Brief, den er in einer be- ſonders nervöſen Stunde aufgebrochen und in zit- ternder Haſt flüchtig überflogen hatte, nachdem er ihn ſchon unzählige Male in Händen gehabt, aber ſtets wieder bei Seite gelegt, hatte er ſofort ver-
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Thüringen bleiben möchte. Er wollte ſich jetzt nicht
von ihr ſtören laſſen, er gewann ſeine Einſamkeit
täglich lieber, und doch hatte er in dieſen Tagen
eigentlich gar Nichts vor ſich, er vegetirte mehr me-
chaniſch dahin, als daß er bewußt lebte, als daß
er jetzt eine Individualität ſein durfte, die ſich in
ihrer reichen Subjektivität ſelbſt genug iſt.
Manchmal beunruhigte ihn das Schickſal Hed-
wigs doch ſehr. Zuerſt zuckte er bei jedem Anſchlagen
der Glocke zuſammen, er fürchtete, der Poſtbote
würde in ſein Zimmer treten und ihm die tauſend
Mark zurückbringen, deren Annahme die Adreſſatin
verweigert hätte. Aber der ſonſt ſo Willkommene
blieb aus, blieb aus einen Tag nach dem anderen
— und Adam war das in dieſem Falle ganz recht,
er beruhigte ſich wieder. Hedwig hatte das Geld
alſo angenommen, ihre Lage hatte ſie wohl dazu
gezwungen, aber warum ſollte er Bedenken tragen,
ſein Thun als eine Art von Sühne aufzufaſſen?
Es iſt ja nun einmal ſo auf der Welt, daß ſeeliſche
Verletzungen durch materielle Bußacte wieder
ausgeglichen werden können. Und doch kam ihm der
Gedanke an den Tod Irmers immer wieder, er ver-
mied es mit ängſtlicher Scheu, eine Zeitung zur
Hand zu nehmen, in der er etwa eine Notiz darüber
finden konnte. Irmers Brief, den er in einer be-
ſonders nervöſen Stunde aufgebrochen und in zit-
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Conradi, Hermann: Adam Mensch. Leipzig, [1889], S. 459. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/conradi_adam_1889/467>, abgerufen am 21.11.2024.
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