Cramer, Johann Friedrich Heinrich: Ueber die Nachahmung Jesu. Ein Erbauungsbuch für Christen. Dresden, 1792.XIX. Betrachtung. abgeschaft werden. Bisweilen erlaubte er sich frey-lich einige Freyheiten; bisweilen wich er von den ein- geführten Gebräuchen ab, um sich als den Herrn des Gesetzes zu zeigen, und um seinen Jüngern einen Wink zu geben, daß das Wesentliche der Religion und der Gottesverehrung nicht in der Beobachtung äußerlicher Gebräuche bestehe,*) und daß es ihm zu- komme, der ganzen Religion der Juden eine andre Gestalt zu geben. Ob übrigens gleich damals un- ter den Juden verschiedene Secten waren, die durch ihre Meynungen und Gebräuche sehr von einander ab- wichen: so hielt er sich weder zur Secte der Phari- säer, noch zur Secte der Sadducäer. Er beant- wortete die Fragen, welche die verschiedenen Par- theyen an ihn thaten, mit der größten Weisheit und Klugheit, ohne irgend eine zu begünstigen. Er ließ sich nicht durch das Ansehen der Menschen blenden, sondern er hielt sich lediglich an das Wort Gottes. Er widerlegte zwar die Jrrthümer der Sadducäer und warnte vor den falschen Grundsätzen der Phari- säer; allein das war ein Theil seines Lehramts; und wenn er hierüber geschwiegen hätte, so würde man geglaubt haben, er wolle das alles stillschweigend billi- gen. So tolerant und duldsam also Jesus sonst war; so schwächte doch das seinen Eifer für die Wahr- heit nicht, so richtete er sich doch bey seiner Amts- führung *) Matth. 12, 8. H 4
XIX. Betrachtung. abgeſchaft werden. Bisweilen erlaubte er ſich frey-lich einige Freyheiten; bisweilen wich er von den ein- geführten Gebräuchen ab, um ſich als den Herrn des Geſetzes zu zeigen, und um ſeinen Jüngern einen Wink zu geben, daß das Weſentliche der Religion und der Gottesverehrung nicht in der Beobachtung äußerlicher Gebräuche beſtehe,*) und daß es ihm zu- komme, der ganzen Religion der Juden eine andre Geſtalt zu geben. Ob übrigens gleich damals un- ter den Juden verſchiedene Secten waren, die durch ihre Meynungen und Gebräuche ſehr von einander ab- wichen: ſo hielt er ſich weder zur Secte der Phari- ſäer, noch zur Secte der Sadducäer. Er beant- wortete die Fragen, welche die verſchiedenen Par- theyen an ihn thaten, mit der größten Weisheit und Klugheit, ohne irgend eine zu begünſtigen. Er ließ ſich nicht durch das Anſehen der Menſchen blenden, ſondern er hielt ſich lediglich an das Wort Gottes. Er widerlegte zwar die Jrrthümer der Sadducäer und warnte vor den falſchen Grundſätzen der Phari- ſäer; allein das war ein Theil ſeines Lehramts; und wenn er hierüber geſchwiegen hätte, ſo würde man geglaubt haben, er wolle das alles ſtillſchweigend billi- gen. So tolerant und duldſam alſo Jeſus ſonſt war; ſo ſchwächte doch das ſeinen Eifer für die Wahr- heit nicht, ſo richtete er ſich doch bey ſeiner Amts- führung *) Matth. 12, 8. H 4
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XIX. Betrachtung.
abgeſchaft werden. Bisweilen erlaubte er ſich frey-
lich einige Freyheiten; bisweilen wich er von den ein-
geführten Gebräuchen ab, um ſich als den Herrn
des Geſetzes zu zeigen, und um ſeinen Jüngern einen
Wink zu geben, daß das Weſentliche der Religion
und der Gottesverehrung nicht in der Beobachtung
äußerlicher Gebräuche beſtehe, *) und daß es ihm zu-
komme, der ganzen Religion der Juden eine andre
Geſtalt zu geben. Ob übrigens gleich damals un-
ter den Juden verſchiedene Secten waren, die durch
ihre Meynungen und Gebräuche ſehr von einander ab-
wichen: ſo hielt er ſich weder zur Secte der Phari-
ſäer, noch zur Secte der Sadducäer. Er beant-
wortete die Fragen, welche die verſchiedenen Par-
theyen an ihn thaten, mit der größten Weisheit und
Klugheit, ohne irgend eine zu begünſtigen. Er ließ
ſich nicht durch das Anſehen der Menſchen blenden,
ſondern er hielt ſich lediglich an das Wort Gottes.
Er widerlegte zwar die Jrrthümer der Sadducäer
und warnte vor den falſchen Grundſätzen der Phari-
ſäer; allein das war ein Theil ſeines Lehramts; und
wenn er hierüber geſchwiegen hätte, ſo würde man
geglaubt haben, er wolle das alles ſtillſchweigend billi-
gen. So tolerant und duldſam alſo Jeſus ſonſt
war; ſo ſchwächte doch das ſeinen Eifer für die Wahr-
heit nicht, ſo richtete er ſich doch bey ſeiner Amts-
führung
*) Matth. 12, 8.
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