Cramer, Johann Friedrich Heinrich: Ueber die Nachahmung Jesu. Ein Erbauungsbuch für Christen. Dresden, 1792.XX. Betrachtung. jüdischen Meynung ein, er antwortete nur so viel,als grade nöthig war, um über den gegenwärtigen Fall richtig zu urtheilen. Daher sagte er: es hat weder dieser gesündiget, noch seine Eltern, sondern daß die Werke Gottes offenbar würden an ihm, das heißt: ihr müßt aus dieses Menschen Zustand nicht auf Gottes Strafgerichte schliessen. Dieser Fall be- weiset eben so wenig, daß er, oder seine Eltern sich auf eine außerordentliche Art versündiget haben, son- dern nur so viel läßt sich daraus schliessen, daß dieser Mensch Gelegenheit geben soll, meine göttliche Sen- dung an ihm durch ein Wunder zu beweisen. Zu ei- ner andern Zeit, als man ihm erzählte, Pilatus, der römische Prokurator, habe eine Menge Galiläer wäh- rend des Gottesdienstes im Tempel zu Jerusalem nie- derhauen lassen, wahrscheinlich, weil sie sich des Auf- ruhrs verdächtig gemacht, oder sonst durch Reden und Thaten an der römischen Regierung vergangen hatten: so erklärte er diese Unglücklichen nicht für die allerstrafwürdigsten, wofür sie doch von den Juden angesehen wurden, weil ihnen ein solch außerordent- liches Unglück wiederfahren war.*) Meynet ihr, sprach er, daß diese Galiläer vor allen Galiläern Sünder gewesen sind, dieweil sie das erlitten haben? Glaubt ihr etwa, diese vom Pilatus hingerichteten müßten, weil sie dieses Schicksal gehabt haben, un- ter allen Galiläern grade die schlimmsten, die größten Ver- *) Luc. 13, 1-3.
XX. Betrachtung. jüdiſchen Meynung ein, er antwortete nur ſo viel,als grade nöthig war, um über den gegenwärtigen Fall richtig zu urtheilen. Daher ſagte er: es hat weder dieſer geſündiget, noch ſeine Eltern, ſondern daß die Werke Gottes offenbar würden an ihm, das heißt: ihr müßt aus dieſes Menſchen Zuſtand nicht auf Gottes Strafgerichte ſchlieſſen. Dieſer Fall be- weiſet eben ſo wenig, daß er, oder ſeine Eltern ſich auf eine außerordentliche Art verſündiget haben, ſon- dern nur ſo viel läßt ſich daraus ſchlieſſen, daß dieſer Menſch Gelegenheit geben ſoll, meine göttliche Sen- dung an ihm durch ein Wunder zu beweiſen. Zu ei- ner andern Zeit, als man ihm erzählte, Pilatus, der römiſche Prokurator, habe eine Menge Galiläer wäh- rend des Gottesdienſtes im Tempel zu Jeruſalem nie- derhauen laſſen, wahrſcheinlich, weil ſie ſich des Auf- ruhrs verdächtig gemacht, oder ſonſt durch Reden und Thaten an der römiſchen Regierung vergangen hatten: ſo erklärte er dieſe Unglücklichen nicht für die allerſtrafwürdigſten, wofür ſie doch von den Juden angeſehen wurden, weil ihnen ein ſolch außerordent- liches Unglück wiederfahren war.*) Meynet ihr, ſprach er, daß dieſe Galiläer vor allen Galiläern Sünder geweſen ſind, dieweil ſie das erlitten haben? Glaubt ihr etwa, dieſe vom Pilatus hingerichteten müßten, weil ſie dieſes Schickſal gehabt haben, un- ter allen Galiläern grade die ſchlimmſten, die größten Ver- *) Luc. 13, 1-3.
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XX. Betrachtung.
jüdiſchen Meynung ein, er antwortete nur ſo viel,
als grade nöthig war, um über den gegenwärtigen
Fall richtig zu urtheilen. Daher ſagte er: es hat
weder dieſer geſündiget, noch ſeine Eltern, ſondern
daß die Werke Gottes offenbar würden an ihm, das
heißt: ihr müßt aus dieſes Menſchen Zuſtand nicht
auf Gottes Strafgerichte ſchlieſſen. Dieſer Fall be-
weiſet eben ſo wenig, daß er, oder ſeine Eltern ſich
auf eine außerordentliche Art verſündiget haben, ſon-
dern nur ſo viel läßt ſich daraus ſchlieſſen, daß dieſer
Menſch Gelegenheit geben ſoll, meine göttliche Sen-
dung an ihm durch ein Wunder zu beweiſen. Zu ei-
ner andern Zeit, als man ihm erzählte, Pilatus, der
römiſche Prokurator, habe eine Menge Galiläer wäh-
rend des Gottesdienſtes im Tempel zu Jeruſalem nie-
derhauen laſſen, wahrſcheinlich, weil ſie ſich des Auf-
ruhrs verdächtig gemacht, oder ſonſt durch Reden
und Thaten an der römiſchen Regierung vergangen
hatten: ſo erklärte er dieſe Unglücklichen nicht für die
allerſtrafwürdigſten, wofür ſie doch von den Juden
angeſehen wurden, weil ihnen ein ſolch außerordent-
liches Unglück wiederfahren war. *) Meynet ihr,
ſprach er, daß dieſe Galiläer vor allen Galiläern
Sünder geweſen ſind, dieweil ſie das erlitten haben?
Glaubt ihr etwa, dieſe vom Pilatus hingerichteten
müßten, weil ſie dieſes Schickſal gehabt haben, un-
ter allen Galiläern grade die ſchlimmſten, die größten
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*) Luc. 13, 1-3.
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