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Cramer, Johann Friedrich Heinrich: Ueber die Nachahmung Jesu. Ein Erbauungsbuch für Christen. Dresden, 1792.

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XXI. Betrachtung.
der? War sein Tod nicht das größte und schwerste
Opfer, welches er dem gemeinen Besten darbrach-
te? und zu demselben bewog ihn nichts, als die herz-
lichste Freundschaft, nichts als die sehnlichsten Wün-
sche, uns aus dem tiefsten Elend zu retten, und uns
große ewige Vortheile zu verschaffen. Wo findet
ihr in der ganzen Geschichte einen Mann, der, wie
Jesus, so gegründete Ansprüche auf den Ruhm ei-
nes Menschenfreundes machen könnte? Er betrach-
tete alle Menschen als seine Angehörigen, schämte
sich nicht, die Menschen seine Brüder zu nennen, und
schloß keinen von der Theilnehmung an den Erweisun-
gen seiner Liebe aus. So sehr auch damals die Ju-
den aus Nationalstolz alles, was nicht von Abraham
abstammte, haßten: so schränkte er doch die Aus-
theilung seiner Wohlthaten nicht auf seine Landsleute
allein ein. Er sahe nicht blos auf die Nation und
auf die Religion, zu der man gehörte; man durfte
nur Mensch seyn, so hatte man schon einen Anspruch
auf sein immer warmes gefühlvolles Herz. Er
machte keinen Unterschied zwischen Juden und Sa-
maritanern, zwischen Knechten und Freyen. Kei-
ner, der sich ihm näherte, war ihm fremd; keiner
wurde seines Wohlwollens und Wohlthuns für un-
würdig erklärt. Ein einzigesmal schien es, als wenn
er seine allgemeine Menschenliebe nur auf die Juden
einschränken wolle,*) als er sich nämlich eine Zeit-

lang
*) Matth. 15, 21-28.

XXI. Betrachtung.
der? War ſein Tod nicht das größte und ſchwerſte
Opfer, welches er dem gemeinen Beſten darbrach-
te? und zu demſelben bewog ihn nichts, als die herz-
lichſte Freundſchaft, nichts als die ſehnlichſten Wün-
ſche, uns aus dem tiefſten Elend zu retten, und uns
große ewige Vortheile zu verſchaffen. Wo findet
ihr in der ganzen Geſchichte einen Mann, der, wie
Jeſus, ſo gegründete Anſprüche auf den Ruhm ei-
nes Menſchenfreundes machen könnte? Er betrach-
tete alle Menſchen als ſeine Angehörigen, ſchämte
ſich nicht, die Menſchen ſeine Brüder zu nennen, und
ſchloß keinen von der Theilnehmung an den Erweiſun-
gen ſeiner Liebe aus. So ſehr auch damals die Ju-
den aus Nationalſtolz alles, was nicht von Abraham
abſtammte, haßten: ſo ſchränkte er doch die Aus-
theilung ſeiner Wohlthaten nicht auf ſeine Landsleute
allein ein. Er ſahe nicht blos auf die Nation und
auf die Religion, zu der man gehörte; man durfte
nur Menſch ſeyn, ſo hatte man ſchon einen Anſpruch
auf ſein immer warmes gefühlvolles Herz. Er
machte keinen Unterſchied zwiſchen Juden und Sa-
maritanern, zwiſchen Knechten und Freyen. Kei-
ner, der ſich ihm näherte, war ihm fremd; keiner
wurde ſeines Wohlwollens und Wohlthuns für un-
würdig erklärt. Ein einzigesmal ſchien es, als wenn
er ſeine allgemeine Menſchenliebe nur auf die Juden
einſchränken wolle,*) als er ſich nämlich eine Zeit-

lang
*) Matth. 15, 21-28.
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[132/0158] XXI. Betrachtung. der? War ſein Tod nicht das größte und ſchwerſte Opfer, welches er dem gemeinen Beſten darbrach- te? und zu demſelben bewog ihn nichts, als die herz- lichſte Freundſchaft, nichts als die ſehnlichſten Wün- ſche, uns aus dem tiefſten Elend zu retten, und uns große ewige Vortheile zu verſchaffen. Wo findet ihr in der ganzen Geſchichte einen Mann, der, wie Jeſus, ſo gegründete Anſprüche auf den Ruhm ei- nes Menſchenfreundes machen könnte? Er betrach- tete alle Menſchen als ſeine Angehörigen, ſchämte ſich nicht, die Menſchen ſeine Brüder zu nennen, und ſchloß keinen von der Theilnehmung an den Erweiſun- gen ſeiner Liebe aus. So ſehr auch damals die Ju- den aus Nationalſtolz alles, was nicht von Abraham abſtammte, haßten: ſo ſchränkte er doch die Aus- theilung ſeiner Wohlthaten nicht auf ſeine Landsleute allein ein. Er ſahe nicht blos auf die Nation und auf die Religion, zu der man gehörte; man durfte nur Menſch ſeyn, ſo hatte man ſchon einen Anſpruch auf ſein immer warmes gefühlvolles Herz. Er machte keinen Unterſchied zwiſchen Juden und Sa- maritanern, zwiſchen Knechten und Freyen. Kei- ner, der ſich ihm näherte, war ihm fremd; keiner wurde ſeines Wohlwollens und Wohlthuns für un- würdig erklärt. Ein einzigesmal ſchien es, als wenn er ſeine allgemeine Menſchenliebe nur auf die Juden einſchränken wolle, *) als er ſich nämlich eine Zeit- lang *) Matth. 15, 21-28.

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Zitationshilfe: Cramer, Johann Friedrich Heinrich: Ueber die Nachahmung Jesu. Ein Erbauungsbuch für Christen. Dresden, 1792, S. 132. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/cramer_nachahmung_1792/158>, abgerufen am 21.11.2024.