Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Cramer, Johann Friedrich Heinrich: Ueber die Nachahmung Jesu. Ein Erbauungsbuch für Christen. Dresden, 1792.

Bild:
<< vorherige Seite

XXI. Betrachtung.
lang weigerte, die Bitte jener Cananiterin zu erhören,
welche ihn um Hülfe für ihre Tochter anflehte, die
mit der schrecklichsten Krankheit behaftet war. Er,
der menschenfreundliche Lehrer, der sonst so geneigt
war, die Thränen der Bekümmerten zu trocknen,
schwieg jetzo stille bey dem Geschrey einer geängsteten
Mutter, er, der sonst von freyen Stücken half, ließ
sich hier lange bitten, ehe er der Unglücklichen eine
Antwort gab. Aber wahrscheinlich wollte er da-
mals unter den Heyden noch keine Wunder thun,
oder er wollte nur einen Versuch machen, um zu se-
hen, ob seine Schüler diese Unglückliche ohne Hülfe
würden gehen lassen, blos darum, weil sie keine Jü-
din war, oder ob sie das menschenfeindliche in einem
solchen Betragen, wie es damals unter den Juden
gegen die Heyden gewöhnlich war, fühlen und miß-
billigen würden. Da aber seine Schüler selbst für
sie baten, da sie ein so felsenfestes Vertrauen, ver-
bunden mit so vieler bescheidenen Demuth, gegen Je-
sum äußerte: so gewährte er nicht nur ihre Bitte,
sondern ertheilte ihr auch die größten Lobsprüche, und
zeigte sich nun auf einmal als den edelsten Menschen-
freund in seiner vollen Liebe. Bewundert ferner,
wie thätig, wie geschäftig seine Menschenliebe war!
Sie äußerte sich durch beständiges Helfen und Wohl-
thun. Wie sich an der Sonne jede Blume wärmt,
so fand jeder bey ihm Nahrung, Unterricht, Ruhe

und
J 3

XXI. Betrachtung.
lang weigerte, die Bitte jener Cananiterin zu erhören,
welche ihn um Hülfe für ihre Tochter anflehte, die
mit der ſchrecklichſten Krankheit behaftet war. Er,
der menſchenfreundliche Lehrer, der ſonſt ſo geneigt
war, die Thränen der Bekümmerten zu trocknen,
ſchwieg jetzo ſtille bey dem Geſchrey einer geängſteten
Mutter, er, der ſonſt von freyen Stücken half, ließ
ſich hier lange bitten, ehe er der Unglücklichen eine
Antwort gab. Aber wahrſcheinlich wollte er da-
mals unter den Heyden noch keine Wunder thun,
oder er wollte nur einen Verſuch machen, um zu ſe-
hen, ob ſeine Schüler dieſe Unglückliche ohne Hülfe
würden gehen laſſen, blos darum, weil ſie keine Jü-
din war, oder ob ſie das menſchenfeindliche in einem
ſolchen Betragen, wie es damals unter den Juden
gegen die Heyden gewöhnlich war, fühlen und miß-
billigen würden. Da aber ſeine Schüler ſelbſt für
ſie baten, da ſie ein ſo felſenfeſtes Vertrauen, ver-
bunden mit ſo vieler beſcheidenen Demuth, gegen Je-
ſum äußerte: ſo gewährte er nicht nur ihre Bitte,
ſondern ertheilte ihr auch die größten Lobſprüche, und
zeigte ſich nun auf einmal als den edelſten Menſchen-
freund in ſeiner vollen Liebe. Bewundert ferner,
wie thätig, wie geſchäftig ſeine Menſchenliebe war!
Sie äußerte ſich durch beſtändiges Helfen und Wohl-
thun. Wie ſich an der Sonne jede Blume wärmt,
ſo fand jeder bey ihm Nahrung, Unterricht, Ruhe

und
J 3
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0159" n="133"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">XXI.</hi> Betrachtung.</fw><lb/>
lang weigerte, die Bitte jener Cananiterin zu erhören,<lb/>
welche ihn um Hülfe für ihre Tochter anflehte, die<lb/>
mit der &#x017F;chrecklich&#x017F;ten Krankheit behaftet war. Er,<lb/>
der men&#x017F;chenfreundliche Lehrer, der &#x017F;on&#x017F;t &#x017F;o geneigt<lb/>
war, die Thränen der Bekümmerten zu trocknen,<lb/>
&#x017F;chwieg jetzo &#x017F;tille bey dem Ge&#x017F;chrey einer geäng&#x017F;teten<lb/>
Mutter, er, der &#x017F;on&#x017F;t von freyen Stücken half, ließ<lb/>
&#x017F;ich hier lange bitten, ehe er der Unglücklichen eine<lb/>
Antwort gab. Aber wahr&#x017F;cheinlich wollte er da-<lb/>
mals unter den Heyden noch keine Wunder thun,<lb/>
oder er wollte nur einen Ver&#x017F;uch machen, um zu &#x017F;e-<lb/>
hen, ob &#x017F;eine Schüler die&#x017F;e Unglückliche ohne Hülfe<lb/>
würden gehen la&#x017F;&#x017F;en, blos darum, weil &#x017F;ie keine Jü-<lb/>
din war, oder ob &#x017F;ie das men&#x017F;chenfeindliche in einem<lb/>
&#x017F;olchen Betragen, wie es damals unter den Juden<lb/>
gegen die Heyden gewöhnlich war, fühlen und miß-<lb/>
billigen würden. Da aber &#x017F;eine Schüler &#x017F;elb&#x017F;t für<lb/>
&#x017F;ie baten, da &#x017F;ie ein &#x017F;o fel&#x017F;enfe&#x017F;tes Vertrauen, ver-<lb/>
bunden mit &#x017F;o vieler be&#x017F;cheidenen Demuth, gegen Je-<lb/>
&#x017F;um äußerte: &#x017F;o gewährte er nicht nur ihre Bitte,<lb/>
&#x017F;ondern ertheilte ihr auch die größten Lob&#x017F;prüche, und<lb/>
zeigte &#x017F;ich nun auf einmal als den edel&#x017F;ten Men&#x017F;chen-<lb/>
freund in &#x017F;einer vollen Liebe. Bewundert ferner,<lb/>
wie thätig, wie ge&#x017F;chäftig &#x017F;eine Men&#x017F;chenliebe war!<lb/>
Sie äußerte &#x017F;ich durch be&#x017F;tändiges Helfen und Wohl-<lb/>
thun. Wie &#x017F;ich an der Sonne jede Blume wärmt,<lb/>
&#x017F;o fand jeder bey ihm Nahrung, Unterricht, Ruhe<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">J 3</fw><fw place="bottom" type="catch">und</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[133/0159] XXI. Betrachtung. lang weigerte, die Bitte jener Cananiterin zu erhören, welche ihn um Hülfe für ihre Tochter anflehte, die mit der ſchrecklichſten Krankheit behaftet war. Er, der menſchenfreundliche Lehrer, der ſonſt ſo geneigt war, die Thränen der Bekümmerten zu trocknen, ſchwieg jetzo ſtille bey dem Geſchrey einer geängſteten Mutter, er, der ſonſt von freyen Stücken half, ließ ſich hier lange bitten, ehe er der Unglücklichen eine Antwort gab. Aber wahrſcheinlich wollte er da- mals unter den Heyden noch keine Wunder thun, oder er wollte nur einen Verſuch machen, um zu ſe- hen, ob ſeine Schüler dieſe Unglückliche ohne Hülfe würden gehen laſſen, blos darum, weil ſie keine Jü- din war, oder ob ſie das menſchenfeindliche in einem ſolchen Betragen, wie es damals unter den Juden gegen die Heyden gewöhnlich war, fühlen und miß- billigen würden. Da aber ſeine Schüler ſelbſt für ſie baten, da ſie ein ſo felſenfeſtes Vertrauen, ver- bunden mit ſo vieler beſcheidenen Demuth, gegen Je- ſum äußerte: ſo gewährte er nicht nur ihre Bitte, ſondern ertheilte ihr auch die größten Lobſprüche, und zeigte ſich nun auf einmal als den edelſten Menſchen- freund in ſeiner vollen Liebe. Bewundert ferner, wie thätig, wie geſchäftig ſeine Menſchenliebe war! Sie äußerte ſich durch beſtändiges Helfen und Wohl- thun. Wie ſich an der Sonne jede Blume wärmt, ſo fand jeder bey ihm Nahrung, Unterricht, Ruhe und J 3

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Matthias Boenig, Yannic Bracke, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Linda Kirsten, Xi Zhang: Arbeitsschritte im Digitalisierungsworkflow: Vorbereitung der Bildvorlagen für die Textdigitalisierung; Bearbeitung, Konvertierung und ggf. Nachstrukturierung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Linda Kirsten, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Erbauungsschriften zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/cramer_nachahmung_1792
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/cramer_nachahmung_1792/159
Zitationshilfe: Cramer, Johann Friedrich Heinrich: Ueber die Nachahmung Jesu. Ein Erbauungsbuch für Christen. Dresden, 1792, S. 133. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/cramer_nachahmung_1792/159>, abgerufen am 21.11.2024.