Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Cramer, Johann Friedrich Heinrich: Ueber die Nachahmung Jesu. Ein Erbauungsbuch für Christen. Dresden, 1792.

Bild:
<< vorherige Seite

XXIV. Betrachtung.
sein täglicher Unterricht und alle seine Gegenvorstel-
lungen nicht im Stande waren, ihre Vorurtheile,
ich will nicht sagen, auszurotten, sondern nur zu
schwächen. Jhre groben Begriffe waren so tief ein-
gewurzelt, und ihre Aufmerksamkeit oft so geringe,
daß sie nicht selten den deutlichsten Vortrag und die
leichtesten Gleichnißreden nicht verstanden. Drey
Jahre hatten sie seinen vertrauten, lehrreichen Um-
gang genossen; und doch waren ihre Erwartungen
von zeitlicher Glückseligkeit, ihre Vorstellungen vom
äußerlichen Pomp des Meßias, und ihre ehrgeizigen
Rangstreitigkeiten noch so groß, daß sie denselben bis
auf den letzten Augenblick ihrer Trennung von Jesu
nicht entsagen wollten. Wurde aber wohl Jesus
deswegen müde, sie zu unterrichten und zu belehren?
Ueberließ er sich deswegen der Ungeduld? Nein! er
hatte Geduld mit ihrer Schwachheit und Unwissen-
heit. Er verdoppelte vielmehr seinen Eifer in ihrem
Unterrichte, er wiederholte seine Lehren, stellte sie
bald auf diese, bald auf jene Art vor, um sie faßlich
zu machen. Und wenn seine Schüler dessen ohnge-
achtet noch nicht begriffen, was er sagen wollte;
wenn sie bey allen Wundern noch ein sträfliches Mis-
trauen in seine Macht setzten, so ließ er mehr Mit-
leiden mit ihrem Unverstande, als ungestüme Hitze
über ihre Unachtsamkeit von sich blicken. Jhr Klein-
gläubige,
spricht er bey einer solchen Gelegenheit,

was

XXIV. Betrachtung.
ſein täglicher Unterricht und alle ſeine Gegenvorſtel-
lungen nicht im Stande waren, ihre Vorurtheile,
ich will nicht ſagen, auszurotten, ſondern nur zu
ſchwächen. Jhre groben Begriffe waren ſo tief ein-
gewurzelt, und ihre Aufmerkſamkeit oft ſo geringe,
daß ſie nicht ſelten den deutlichſten Vortrag und die
leichteſten Gleichnißreden nicht verſtanden. Drey
Jahre hatten ſie ſeinen vertrauten, lehrreichen Um-
gang genoſſen; und doch waren ihre Erwartungen
von zeitlicher Glückſeligkeit, ihre Vorſtellungen vom
äußerlichen Pomp des Meßias, und ihre ehrgeizigen
Rangſtreitigkeiten noch ſo groß, daß ſie denſelben bis
auf den letzten Augenblick ihrer Trennung von Jeſu
nicht entſagen wollten. Wurde aber wohl Jeſus
deswegen müde, ſie zu unterrichten und zu belehren?
Ueberließ er ſich deswegen der Ungeduld? Nein! er
hatte Geduld mit ihrer Schwachheit und Unwiſſen-
heit. Er verdoppelte vielmehr ſeinen Eifer in ihrem
Unterrichte, er wiederholte ſeine Lehren, ſtellte ſie
bald auf dieſe, bald auf jene Art vor, um ſie faßlich
zu machen. Und wenn ſeine Schüler deſſen ohnge-
achtet noch nicht begriffen, was er ſagen wollte;
wenn ſie bey allen Wundern noch ein ſträfliches Mis-
trauen in ſeine Macht ſetzten, ſo ließ er mehr Mit-
leiden mit ihrem Unverſtande, als ungeſtüme Hitze
über ihre Unachtſamkeit von ſich blicken. Jhr Klein-
gläubige,
ſpricht er bey einer ſolchen Gelegenheit,

was
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0183" n="157"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">XXIV.</hi> Betrachtung.</fw><lb/>
&#x017F;ein täglicher Unterricht und alle &#x017F;eine Gegenvor&#x017F;tel-<lb/>
lungen nicht im Stande waren, ihre Vorurtheile,<lb/>
ich will nicht &#x017F;agen, auszurotten, &#x017F;ondern nur zu<lb/>
&#x017F;chwächen. Jhre groben Begriffe waren &#x017F;o tief ein-<lb/>
gewurzelt, und ihre Aufmerk&#x017F;amkeit oft &#x017F;o geringe,<lb/>
daß &#x017F;ie nicht &#x017F;elten den deutlich&#x017F;ten Vortrag und die<lb/>
leichte&#x017F;ten Gleichnißreden nicht ver&#x017F;tanden. Drey<lb/>
Jahre hatten &#x017F;ie &#x017F;einen vertrauten, lehrreichen Um-<lb/>
gang geno&#x017F;&#x017F;en; und doch waren ihre Erwartungen<lb/>
von zeitlicher Glück&#x017F;eligkeit, ihre Vor&#x017F;tellungen vom<lb/>
äußerlichen Pomp des Meßias, und ihre ehrgeizigen<lb/>
Rang&#x017F;treitigkeiten noch &#x017F;o groß, daß &#x017F;ie den&#x017F;elben bis<lb/>
auf den letzten Augenblick ihrer Trennung von Je&#x017F;u<lb/>
nicht ent&#x017F;agen wollten. Wurde aber wohl Je&#x017F;us<lb/>
deswegen müde, &#x017F;ie zu unterrichten und zu belehren?<lb/>
Ueberließ er &#x017F;ich deswegen der Ungeduld? Nein! er<lb/>
hatte Geduld mit ihrer Schwachheit und Unwi&#x017F;&#x017F;en-<lb/>
heit. Er verdoppelte vielmehr &#x017F;einen Eifer in ihrem<lb/>
Unterrichte, er wiederholte &#x017F;eine Lehren, &#x017F;tellte &#x017F;ie<lb/>
bald auf die&#x017F;e, bald auf jene Art vor, um &#x017F;ie faßlich<lb/>
zu machen. Und wenn &#x017F;eine Schüler de&#x017F;&#x017F;en ohnge-<lb/>
achtet noch nicht begriffen, was er &#x017F;agen wollte;<lb/>
wenn &#x017F;ie bey allen Wundern noch ein &#x017F;träfliches Mis-<lb/>
trauen in &#x017F;eine Macht &#x017F;etzten, &#x017F;o ließ er mehr Mit-<lb/>
leiden mit ihrem Unver&#x017F;tande, als unge&#x017F;tüme Hitze<lb/>
über ihre Unacht&#x017F;amkeit von &#x017F;ich blicken. <hi rendition="#fr">Jhr Klein-<lb/>
gläubige,</hi> &#x017F;pricht er bey einer &#x017F;olchen Gelegenheit,<lb/>
<fw place="bottom" type="catch"><hi rendition="#fr">was</hi></fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[157/0183] XXIV. Betrachtung. ſein täglicher Unterricht und alle ſeine Gegenvorſtel- lungen nicht im Stande waren, ihre Vorurtheile, ich will nicht ſagen, auszurotten, ſondern nur zu ſchwächen. Jhre groben Begriffe waren ſo tief ein- gewurzelt, und ihre Aufmerkſamkeit oft ſo geringe, daß ſie nicht ſelten den deutlichſten Vortrag und die leichteſten Gleichnißreden nicht verſtanden. Drey Jahre hatten ſie ſeinen vertrauten, lehrreichen Um- gang genoſſen; und doch waren ihre Erwartungen von zeitlicher Glückſeligkeit, ihre Vorſtellungen vom äußerlichen Pomp des Meßias, und ihre ehrgeizigen Rangſtreitigkeiten noch ſo groß, daß ſie denſelben bis auf den letzten Augenblick ihrer Trennung von Jeſu nicht entſagen wollten. Wurde aber wohl Jeſus deswegen müde, ſie zu unterrichten und zu belehren? Ueberließ er ſich deswegen der Ungeduld? Nein! er hatte Geduld mit ihrer Schwachheit und Unwiſſen- heit. Er verdoppelte vielmehr ſeinen Eifer in ihrem Unterrichte, er wiederholte ſeine Lehren, ſtellte ſie bald auf dieſe, bald auf jene Art vor, um ſie faßlich zu machen. Und wenn ſeine Schüler deſſen ohnge- achtet noch nicht begriffen, was er ſagen wollte; wenn ſie bey allen Wundern noch ein ſträfliches Mis- trauen in ſeine Macht ſetzten, ſo ließ er mehr Mit- leiden mit ihrem Unverſtande, als ungeſtüme Hitze über ihre Unachtſamkeit von ſich blicken. Jhr Klein- gläubige, ſpricht er bey einer ſolchen Gelegenheit, was

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Matthias Boenig, Yannic Bracke, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Linda Kirsten, Xi Zhang: Arbeitsschritte im Digitalisierungsworkflow: Vorbereitung der Bildvorlagen für die Textdigitalisierung; Bearbeitung, Konvertierung und ggf. Nachstrukturierung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Linda Kirsten, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Erbauungsschriften zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/cramer_nachahmung_1792
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/cramer_nachahmung_1792/183
Zitationshilfe: Cramer, Johann Friedrich Heinrich: Ueber die Nachahmung Jesu. Ein Erbauungsbuch für Christen. Dresden, 1792, S. 157. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/cramer_nachahmung_1792/183>, abgerufen am 24.11.2024.