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Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875.

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Die Freundschaft im Alterthume.
und mit Diesem und Jenem ein Gespräch anzuknüpfen? Warum
setzte er sich dem Gelächter, der Verspottung und schnöden
Zurückweisung aus? Er hoffte doch unter Hundert oder Zwei¬
hundert Einen zu finden, welcher ihm seine Seele hingebe, der
ihm etwas mitzutheilen oder von ihm zu empfangen habe,
der einen Wissenstrieb in sich fühle, welcher richtig gepflegt
als Keim eines neuen Lebens sich hervordränge, anfangs
ängstigend und verwirrend, dann aber doch der Ursprung eines
hohen Menschenglücks. So wurde die Wißbegierde ein Trieb
zur Freundschaft und die Freundschaft wiederum der Anfang
fruchtbarer, segensreicher Belehrung; ein Anfang, welcher durch
keinen anderen ersetzt werden konnte.

Aber nicht nur die Erweckung bedurfte der Freundschaft,
sondern auch die Pflege des angeregten Wissenstriebes. Viele
der Seelen, die gewonnen waren, wandten sich wieder ab
vom stillen Platze der Selbsterkenntniß, auf welchen sie Sokrates
gestellt hatte, durch den Strom des Lebens wieder fortgerissen;
Andere aber blieben, Wenige, aber eine treue Schaar, eine
Gruppe von Freunden, wie Hausgenossen um einen Herd
versammelt, dessen heilige Flamme sie nicht erlöschen lassen
wollten.

Noch mehr als bei den Sokratikern, war bei den Pytha¬
goreern die Freundschaft mit der Forschung eng verbunden;
was dort freier Anschluß war, galt hier als Satzung. Daher
hieß Pythagoras der Gesetzgeber der Freundschaft, und durch
eine ordensmäßige Verpflichtung war hier die Gemeinschaft
der geistigen Güter auch auf die leiblichen ausgedehnt. Die
Sophisten standen isolirt, weil Jeder etwas für sich sein und
gelten wollte, weil sie Kenntnisse und Fertigkeiten feilboten,
welche äußerlich übernommen und angelernt werden konnten.
Je tiefer aber eine Philosophie den ganzen Menschen ergriff,
um so mehr war die Freundschaft die nothwendige Form der
Mittheilung und der Bewahrung.

Die Freundschaft ging mit der griechischen Bildung zu¬
sammen in andere Länder hinüber und verband diejenigen
unter einander, welche es zu ihrer Aufgabe machten, die aus¬

Die Freundſchaft im Alterthume.
und mit Dieſem und Jenem ein Geſpräch anzuknüpfen? Warum
ſetzte er ſich dem Gelächter, der Verſpottung und ſchnöden
Zurückweiſung aus? Er hoffte doch unter Hundert oder Zwei¬
hundert Einen zu finden, welcher ihm ſeine Seele hingebe, der
ihm etwas mitzutheilen oder von ihm zu empfangen habe,
der einen Wiſſenstrieb in ſich fühle, welcher richtig gepflegt
als Keim eines neuen Lebens ſich hervordränge, anfangs
ängſtigend und verwirrend, dann aber doch der Urſprung eines
hohen Menſchenglücks. So wurde die Wißbegierde ein Trieb
zur Freundſchaft und die Freundſchaft wiederum der Anfang
fruchtbarer, ſegensreicher Belehrung; ein Anfang, welcher durch
keinen anderen erſetzt werden konnte.

Aber nicht nur die Erweckung bedurfte der Freundſchaft,
ſondern auch die Pflege des angeregten Wiſſenstriebes. Viele
der Seelen, die gewonnen waren, wandten ſich wieder ab
vom ſtillen Platze der Selbſterkenntniß, auf welchen ſie Sokrates
geſtellt hatte, durch den Strom des Lebens wieder fortgeriſſen;
Andere aber blieben, Wenige, aber eine treue Schaar, eine
Gruppe von Freunden, wie Hausgenoſſen um einen Herd
verſammelt, deſſen heilige Flamme ſie nicht erlöſchen laſſen
wollten.

Noch mehr als bei den Sokratikern, war bei den Pytha¬
goreern die Freundſchaft mit der Forſchung eng verbunden;
was dort freier Anſchluß war, galt hier als Satzung. Daher
hieß Pythagoras der Geſetzgeber der Freundſchaft, und durch
eine ordensmäßige Verpflichtung war hier die Gemeinſchaft
der geiſtigen Güter auch auf die leiblichen ausgedehnt. Die
Sophiſten ſtanden iſolirt, weil Jeder etwas für ſich ſein und
gelten wollte, weil ſie Kenntniſſe und Fertigkeiten feilboten,
welche äußerlich übernommen und angelernt werden konnten.
Je tiefer aber eine Philoſophie den ganzen Menſchen ergriff,
um ſo mehr war die Freundſchaft die nothwendige Form der
Mittheilung und der Bewahrung.

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[194/0210] Die Freundſchaft im Alterthume. und mit Dieſem und Jenem ein Geſpräch anzuknüpfen? Warum ſetzte er ſich dem Gelächter, der Verſpottung und ſchnöden Zurückweiſung aus? Er hoffte doch unter Hundert oder Zwei¬ hundert Einen zu finden, welcher ihm ſeine Seele hingebe, der ihm etwas mitzutheilen oder von ihm zu empfangen habe, der einen Wiſſenstrieb in ſich fühle, welcher richtig gepflegt als Keim eines neuen Lebens ſich hervordränge, anfangs ängſtigend und verwirrend, dann aber doch der Urſprung eines hohen Menſchenglücks. So wurde die Wißbegierde ein Trieb zur Freundſchaft und die Freundſchaft wiederum der Anfang fruchtbarer, ſegensreicher Belehrung; ein Anfang, welcher durch keinen anderen erſetzt werden konnte. Aber nicht nur die Erweckung bedurfte der Freundſchaft, ſondern auch die Pflege des angeregten Wiſſenstriebes. Viele der Seelen, die gewonnen waren, wandten ſich wieder ab vom ſtillen Platze der Selbſterkenntniß, auf welchen ſie Sokrates geſtellt hatte, durch den Strom des Lebens wieder fortgeriſſen; Andere aber blieben, Wenige, aber eine treue Schaar, eine Gruppe von Freunden, wie Hausgenoſſen um einen Herd verſammelt, deſſen heilige Flamme ſie nicht erlöſchen laſſen wollten. Noch mehr als bei den Sokratikern, war bei den Pytha¬ goreern die Freundſchaft mit der Forſchung eng verbunden; was dort freier Anſchluß war, galt hier als Satzung. Daher hieß Pythagoras der Geſetzgeber der Freundſchaft, und durch eine ordensmäßige Verpflichtung war hier die Gemeinſchaft der geiſtigen Güter auch auf die leiblichen ausgedehnt. Die Sophiſten ſtanden iſolirt, weil Jeder etwas für ſich ſein und gelten wollte, weil ſie Kenntniſſe und Fertigkeiten feilboten, welche äußerlich übernommen und angelernt werden konnten. Je tiefer aber eine Philoſophie den ganzen Menſchen ergriff, um ſo mehr war die Freundſchaft die nothwendige Form der Mittheilung und der Bewahrung. Die Freundſchaft ging mit der griechiſchen Bildung zu¬ ſammen in andere Länder hinüber und verband diejenigen unter einander, welche es zu ihrer Aufgabe machten, die aus¬

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Zitationshilfe: Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. 194. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/210>, abgerufen am 23.11.2024.